Lerchenkopf
Die Verhedderung an sich ist unumgänglich. Ich kenne niemanden, der es schafft, sein Leben so zu führen, dass alles unwiederbringlich Sinn macht, dass es keinen Zweifel gibt und keine Verbrennung. Einige kenne ich jedoch, die zögern so sehr, dass sie natürlich auf der einen Seite alles in Ordnung bringen können, die bügeln und legen und ordnen und schmeißen weg und recherchieren, bevor sie etwas Neues in ihr Leben lassen, die wissen auch immer genau, wo was liegt und was in welcher Schublade vorhanden ist, manchmal vermute ich, diese Menschen kennen auch die genaue Anzahl der Haare auf ihrem Kopf an jedem Morgen und legen jene, die sie über Nacht verloren haben, in Reih und Glied auf den Nachttisch, um sie später abzuheften. Keine Sorge, ich habe nichts gegen gesunde Skepsis, ich gebe gerne auch etwas von meiner ab hier und da, ich habe reichlich davon, aber solche, die nur tasten und jedes Mal zucken, wenn es knallt, machen mir Angst, weil ich insgeheim glaube, dass sie schon viel älter sind, als sie zugeben, bei dem Weg, den sie in dieser geringen Geschwindigkeit zurückgelegt haben müssen.
Die Verhedderung machte ich mir früher zum Spiel, wenn ich mit meinem Großvater in den Garten fuhr, in einem dieser Abteile sitzend, deren Polster mit rotem Kunstleder bezogen waren. Nur durch Armlehnen waren die einzelnen Plätze von einander getrennt. Klappte man die Lehnen aber nach oben, konnte ich mich ohne Probleme längs legen und den Bäumen und Masten und Wolken beim Vorüberzischen zusehen. Mein Großvater trug manchmal Schnur in seinem Rucksack mit, er hatte eh immer Allerlei dabei, denn niemand wusste, ob wir nicht unterwegs eventuell verloren gehen würden, da bräuchte man auf jeden Fall Schnur und drei Sorten Unterlegscheibchen, ein Taschenmesser, einen Schraubenzieher, Briefmarken und auch etwas zu Essen. Manchmal schnappte ich mir das Knäuel Schnur und machte wahllos Knoten hinein, ich verwirrte den Faden bis zum letzten Zentimeter, nur um mich dann daran zu machen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Mein Opa schüttelte den Kopf, ich jedoch konnte mir teilweise keine schönere Beschäftigung vorstellen, als alles wieder fein säuberlich aufzuwickeln, auch wenn ich in den anderen Teilen meines Lebens nicht zu solcher Ordnung neigte. Fragen Sie meinen Großvater, wenn Sie ihn mal treffen, er wird Ihnen von den Fotos meines Kinderzimmers erzählen, auf denen kein Weg zum Bett zu erkennen war. In Handschrift hatte ich jedoch immer eine Eins.
Die Verhedderung erzieht mich. Sie zwingt mich, auszuatmen, langsam zu machen, mich zu erinnern, was ich eigentlich wollte und ob das hier immer noch der richtige Weg ist. Manchmal ist sie dabei nicht besonders sanft, die Verhedderung, was hin und wieder auch mit meinem Übermut oder zu großen Schritten zu tun haben kann, es hilft jedoch, sich dann Eis auf die Knie zu legen und irgendwo einfach anzufangen. Es ist nicht so, dass ich mir jede Woche ein neues System überlegen muss, aber vielleicht alle zwei Jahre. Als würde sich der Pullover nach und nach aufribbeln und irgendwann merkt man, dass es zieht an den Seiten. Meistens kommt es ganz langsam, der Druck nimmt nach und nach zu und fällt dann irgendwann in einem Faden aus meiner Hosentasche, weil der Platz nicht mehr ausreicht. Ich merke das, wenn mir im Bus Menschen auf die Hände sehen, weil meine Finger plötzlich von mir unbemerkt die leisen Bewegungen nachahmen, die früher im Zug immer geholfen haben. Etwas wird sich ändern, oder hat sich vielleicht schon, der Blick, die Sprache, der Grund.