Beinahe ein Jahr
Elf Monate und drei Wochen ist es her, dass ich das letzte Mal einen Text geschrieben und hier veröffentlicht habe. In der Schublade gibt es nichts, in der Notizfunktion meines Handys liegen träge ein paar Gedanken herum, Halbsätze, ich habe selten etwas zu Ende gedacht, und wenn doch, dann war es zu furchteinflößend, um es obendrein auch noch aufzuschreiben, vielleicht war es zu schüchtern, ich wollte nichts vorwegnehmen, nicht enttäuscht werden, nicht überschwänglich. Das habe ich ein paar Mal gehört, dass mit der Pandemie spürbar wurde, wie es ist, nichts planen zu können, zurückgeworfen zu sein auf den Moment und in dem irgendwie herum zu existieren. Für mich war und ist die Pandemie geprägt von Wortlosigkeit. Weil ich es nicht schaffte, mich zu sortieren, weil ich in Schockstarre war, weil ich müde war, weil es meiner Meinung nach überall wichtigeres zu lesen gab und ich aus meiner Perspektive nichts Neues hinzufügen konnte. Aber es fehlt mir, das Schreiben. Es fehlt mir so sehr. Und am Ende ist das hier ja mein Garten, in dem ich auch zwanzigmal im Kreis laufen kann, wenn ich es will. It’s my blog and I cry if I want to. Ich hatte vergessen, dass das geht.
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356 Tage ist es her, dass hier das letzte Mal ein Text von mir erschienen ist. Damals waren es 19.000 Tote. Fast 500 pro Tag. Nach 50 Wochen und 3 Tagen sind wir bei 101.000 Toten. Während ich das tippe, muss ich schlucken. Seit einer Weile schon folge ich D. auf Instagram, und neulich schrieb sie, wie sie lähmt, dass nie über diese kollektive Trauer gesprochen wird. Genau darum drehte sich mein Text von vor einem Jahr. Tote haben keine Lobby. Immer noch nicht. Wir wollen darüber schreiben. Mehr dazu hoffentlich bald an dieser Stelle. Weil es mir immer noch den Atem verschlägt.
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Gestern Abend standen J. und ich im Dunkeln vor einer Wiese, über die ein Meer von Lichtern wehte und ich musste in diesem Moment genau daran denken. An diese 101.000 Menschen. An ihre Familien. An meine. Die Lichter rollten von unten den Hügel hinauf, helle Punkte in einer Welle, es hatte gerade aufgehört zu schneien.
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Ich kann meine Gedanken zu all dem immer noch schwer sortieren. Ich bin immer noch müde, vielleicht mehr denn je. Wut macht müde. Diese Wut, die im letzten Jahr in meinen Körper gekrochen ist, wie Sodbrennen überall. Diese Sorte Wut, die nicht weniger wird, wenn man sie äußert, aber die einen erschöpft, weil sie einhergeht mit Ohnmacht. Diese Sorte Wut, die sich anfühlt wie das Gefühl, das kommt, nachdem einem ein Körperteil eingeschlafen ist und gerade wieder aufwacht. Die mich zum Heulen bringt (übrigens auch: das Weinen neu entdeckt und wie es einen erleichtert, wenn man es einfach mal nicht moderiert, sondern lässt).
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N. schreibt, wie beschissen es doch ist, dass man mit Kindern immer dann am wenigsten Hilfe bekommt, wenn man sie am meisten braucht: wenn man selbst krank ist oder die Kinder oder man mit ihnen in Quarantäne sitzt. Wie mies die Umstände sind und wie hart diese Zeiten für Eltern und Kinder.
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Und mit dem Schreiben ist auch ein Stück Platz für die Musik zurückgekehrt. Und die Sehnsucht nach Konzerten, nach Tanzen, von dem man nach zwei Minuten schwitzt, nach musikalischem Krach, der einem so um die Ohren fliegt, dass Gedanken keinen Platz mehr haben, dass man sich mitten hineinstellt und auch wirklich nur das, dass es einem durch und durch geht, vibriert und berührt und man mitbrüllt und nach zwei Stunden davon entspannter ist als nach drei Tagen Urlaub. Ich höre sie wieder laut, ich höre wieder zu, ich lasse mich berühren (mir ist Musik tatsächlich oft zu viel, wenn in mir eh schon Sturm ist, kennt das noch jemand?) und warte auf den Moment, in dem es auch live wieder geht. Ich bin ein bisschen besser geworden in Geduld.
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Heute morgen saßen wir vor dem Café in der Wintersonne, und ein flauschiger Babyhund warf sich auf das Nachbarskind, das quiekte vor Lachen. Nächste Woche stelle ich mich für den Booster an und sollte das klappen, klinge ich evtl. genauso.
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Es gibt noch eine Nachricht in eigener Sache. Vor elf Jahren ist ja mein erster Roman bei Suhrkamp erschienen. Nun gibt es ihn auch als Hörbuch bei Audible. Und ihr helft mir sehr, solltet ihr ihn hören, wenn ihr ihn auch bewertet und kommentiert.