Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Juni, 2020

Rollsplit

Gordi singt, während vor meinem Fenster das Wasser vom Himmel fällt, als ginge es um was. Alle Fenster auf und sich mittenrein stellen. Ich merke, das ist eines dieser Dinge, die mir in den letzten drei bis vier Monaten immer mehr fehlen, das sich mittenrein stellen, weil alles so mit Vorsicht belegt ist und Zweifeln und Verantwortung, aber mir fehlt der situative Überschwang, ich brauche das nicht ständig, nicht mehr so wie früher, aber es gibt diesen Moment im Bauch, den man meistens erst hinterher realisiert, in dem man sich entscheidet vollkommen loszulassen, in dem es nicht knackt, sondern rollt, der Fuckitmoment, der Isallesegalmoment, ich vermisse dieses Gefühl wie jemanden, der gerade erst weggezogen ist und von dem man sich einredet, dass man ihn ja noch gar nicht vermissen kann, weil man sich vorgestern ja erst gesehen und angemessen verabschiedet hat und sowieso sei man doch jetzt erwachsen und man könne sich ja anrufen und schreiben, aber für manche Begegnung gibt es kein Substitut und für den Jetztoderniemoment eben auch nicht. (And I am lying about leaking here.)

Es ist ein guter Tag. Ich weiß das schon, als ich ihn von weitem auf der Bank sitzen sehe, er hat sich eine kurze Hose angezogen, seine Hemden sind ihm mittlerweile viel zu lang. Aber heute sind seine Augen wacher, heute benutzt er seine Hände beim Reden, er schaut sich um und sieht nicht aus, als würde er jede Sekunde einschlafen, er isst die Erdbeeren, die ich ihm mitgebracht habe, mit den Fingern direkt aus dem Glas. Kleine roten Flecken an seiner Maske, auf seinem Hemd, auf seiner Hose, aber die interessieren uns nicht. Er regt sich nicht auf, als der Hausmeister den Rasensprenger so stellt, dass wir kurz nass werden, er lacht sogar mit ihm, das passiert mittlerweile nur noch selten. Es ist auch ein Tag, an dem er Fragen stellt. Unser Abschied verläuft in Etappen, heute rasten wir.

„Wie weit entfernt ist nah genug?“ (Thomas Pletzinger, The Great Nowitzki, S. 55)

Das Geräusch der Simson schubst mich für ein paar Ampelphasen in meine Kindheit zurück, aufs Land und den Geruch von trockenem Gras und dem Appetit auf Schnitzel, mir ging damals jedes Zeitgefühl verloren, auch in größerem Umfang, mir schlief schon damals auf dem Roller der Hintern ein, ich wusste nicht mehr, als dass Ferien waren und irgendwann Ende Zwanzig kam dieses Gefühl zurück, ich brauchte nicht mehr tagelang, um die Arbeit und den Alltag loszulassen, mittlerweile kann ich das innerhalb weniger Minuten, in einem Zug, in einem Auto, auf einem Roller, in einer S-Bahn. Mich ausschütteln und bemerken, wie der Wind riecht, und die Augen nach gestreiften Markisen offenhalten, nach Imbissschildern und Vogelstimmen und Falten in fremden Gesichtern, sich erst nach und nach raus bewegen und dann raus sein. Die Stelle am See ist noch fast leer, als wir ankommen, das Ufer ein bisschen schlammig, aber sobald man im Wasser ist, sieht man nur noch die Bäume am anderen Ufer und den Himmel und zwei drei Anleger, der Wald riecht bis hinaus aufs Wasser, sonst sieht man nichts, unter Wasser ist es ganz still und dunkelgrün und hellbraun, kühl und genau richtig und schon beinahe Ende Juni. Danach grabe ich die Füße in den Sand, schließe die Augen und höre Badestellengeräusche, Kinderstimmen, sanftes Stapfen, Plätschern und der Wind schiebt die Bäume hin und her wie alte Bekannte, die Konstante aller Sommer. Am Baum lehnt eine aufblasbare Brezel. Auf dem Rückweg fallen die ersten Tropfen, als wir an der Ampel stehen und kurz darauf biegen wir rechts auf einen kurzgeschorenen Rasen vor einem Kiosk, wir bestellen Pommes und Cola und Fanta. Dann kommt das Gewitter.

T. schickt dieses Lied, das mich ein paar Tage lang begleitet, manchmal weiß man ja auch nicht, welcher Ton das ist, den manches in einem anschlägt.

Als ich den Kaffeeladen betrete, läuft Blister von Jimmy Eat World und der Kaffeemann singt unter seiner Maske mit, ich grinse unter meiner. Wir waren 17 und neben der Razzmatazz von Pale waren die Give Up von The Postal Service und die Clarity unser Soundtrack für die Landstraßen zu den Festivals, für die Abende neben den S-Bahn-Gleisen, für den einen Moment, wenn man sich nur kurz ansah und dann aus verschiedenen Ecken auf die Tanzfläche strömte, für die Nächte, in denen keine Bahn mehr fuhr und man einfach ein, zwei Stunden zu Fuß nach Hause lief ohne zu murren, weil man hatte ja Kopfhörer dabei und Ersatzbatterien, wir hörten diese drei Platten am Rand des Fußballfelds und vor und nach den ersten Katastrophen, die man auch wirklich als solche bezeichnen konnte.

Dieses Jahr schlenkert. Ich spüre, wie sehr ich gefragt bin, mich umzustellen und zu justieren, alle paar Tage neu, vielleicht hat es gar nichts mit dem Gefühl zu tun, sich auf nur wenig verlassen zu können, vielleicht verwechsle ich das manchmal und es geht eigentlich darum, vor allem Erwartungen zurückzuschrauben und dort zu werkeln, wo man kann, und nicht, wo man könnte, vor allem im Heute. Frauenmagazine und Ratgeber propagieren ja gerne, dass man aus jeder Niederlage etwas lernt und schwere Zeiten könnten auch reinigend sein, und in mir sträubt sich dann noch immer meistens etwas, das sagt, jetzt gesteht doch mal Leuten zu, dass es einfach mal scheiße ist, dass nicht alles auf seinen Wert für später hin abgeklopft werden muss und dass Erschöpfung und Angst und Konflikt und Traurigkeit nicht immer auszuwringen sind. Und gleichzeitig empfinde ich Mitgefühl mit jenen, die genau das nicht anerkennen können, weil es vermutlich zu dunkel wäre, weil Aufgeben ja meistens das Schwerste ist, also anzuerkennen, dass etwas wirklich nur um seiner selbst willen und manchmal sogar umsonst existiert, dass es keinen weiteren Sinn hat als beschissen zu sein oder unangenehm oder ermüdend, und woher kommt eigentlich die Erwartung, sowas existiere nicht? Sich in die Kurven legen, während auf meinem Fensterbrett der Mohn blüht.

„Hope is a vulnerable place.“ (The High/Low)

Ich liege auf der Decke, die Kinder klatschen mit ihren nassen Bäuchen auf die Plane und lachen sich kaputt, der Himmel wird erst hellblau, dann dunkelblau, dann gelb an den Rändern, orange und später marmoriert er sich pink. Über uns summen die ersten Nachtinsekten, Flaschen klirren, in den Hochhäusern hinter den Bäumen öffnen sich die ersten Fenster in den Abend, und wie so oft, wenn ich irgendwo bin, wo ich mich vollkommen losgelöst und wohl und geborgen fühle, fällt er mir ein. Ich hätte ihm wirklich gern von alldem erzählt.

Mähen

Ich bin euphorisch, als ich mich aus dem Auto pelle, beinahe hinfalle, weil ich zwei Stunden zwischen Kisten und Pflanzen und Zeug saß. Ich steige aus, die Seeluft schlägt mir entgegen (gibt es eine Verniedlichungsform von schlagen? Sie schlägt mich nicht brutal, es sind eher viele sehr kleine Fäuste, vielleicht Pfoten, mit denen sie an mein Gesicht klopft). Ich bin fünf Monate nicht hier gewesen. Der Ginster sieht aus, als wäre er in einer Flugrolle aufgehalten worden und jetzt hängt er da, einzelne Äste bereits verblüht, abgestorben, aber das Restgelb sticht dann doch alles. Die Hecke franst sich an den äußeren Rändern in die Wildblumen, die Rose macht ihr Ding in alle Richtungen, doch der Pfirsichbaum ist relativ kahl und auch der große Apfelbaum, den wir im Herbst eigentlich immer abernten und der sonst all seine Blüten und Früchte dem kleinen Parkplatz entgegen streckt, hält sich zurück. Ich schlage den Riegel am Gartentor zurück, Erinnerungsgewitter und Gerüche. Ein paar Meter weiter weht mir das Gras um die Knie.

Angekommen ist man, wenn man die erste Bachstelze gesichtet hat. Das geht schnell. Dann ausräumen, einräumen, sich Platz verschaffen, ich wundere mich immer noch über die Schichten und Lagen, die Opa in diesem eigentlich winzigen Häuschen hinterlassen hat, wie viel Zeug man eigentlich anhäufen kann. Er ist diese Generation, die kaputte Geräte nicht verschrottet, sondern aufgehoben hat, vielleicht als Beweis, vielleicht mit der Hoffnung einzelne Teile wiederverwerten zu können. Er hat nie irgendeines von den komplexeren Geräten aufgeschraubt, vermutlich ging es nicht darum. Am Ende konnte er immer sagen, er hat vier kleine Backöfen gehabt, fünf Wasserkocher, Teppiche, sehr viele Kabel, Glühbirnen, Behältnisse. Es ist immer noch so viel und man weiß nicht, wohin mit sich und dem Kram, ich muss immer sofort niesen, wenn ich eintrete, der Staub versteckt sich überall, aber wenigstens riecht es nicht mehr danach, nach den Jahren. Wir montieren ein Fliegengitter, um auch abends noch lüften zu können. Man kann hier so viel abwischen immer und immer wieder. Das Dach macht uns Sorgen.

Der See ist so kalt, dass es einem alles blitzdingst. Ich schaffe es beim ersten Mal nur ein paar Sekunden bis zum Knie, aber selbst das ist gut. Sobald ich hier bin, vergesse ich die Stadt und das geregelte Leben, ich lege mich in die Vorstellung davon, dass es wirklich nicht so viel anderes gibt als Heckenscheren und Saatgut und Dinge, die von A nach B gelegt werden müssen. Auch hier habe ich Listen im Kopf, aber die kommen und gehen und basteln sich alle zehn Minuten neu. Bei den meisten von den Dingen ist es nicht schlimm, wenn man sie nicht tut, alles nur Optionen. Die kleine Heckenschere hängt mir permanent in der Gürtelschlaufe. Am Ende werde ich vier Stunden im Beet gekniet und gesessen und Drübergewachsenes ausgerupft haben, das Telefon ist eingestaubt, aber es ist egal, man denkt eben an nichts, also wirklich an nichts und vermutlich ist das die Meditation, die bei mir in Berlin nie funktioniert. Hier machen meine Hände Kleinkram, meine Augen verfolgen das Geschehen und der Rest existiert einfach so vor sich hin, bis es Zeit ist, einen Kaffee aufzusetzen. Ich bin verschwitzt und verstaubt und springe am Ende doch in den See. Am Abend starrt man weiter so vor sich hin, erst in das Feuer und dann in die Glut, auf dem Kompost wächst ein Salat.

Die stillen Morgen hier sind mir die liebsten. Wenn die Vögel plärren, aber sonst noch nichts, wenn ich in der Sonne sitzen, Kaffee trinken lesen kann. Der Mohn wankt, man wirft hier und da einen Blick in den Himmel, auch so eine überflüssige Sache, weil das Wetter hier unberechenbar ist und ich das Buch über die Wolkenformationen eh noch nicht gelesen habe, es steht seit Jahren im Schrank. Letztes Jahr landete an so einem Morgen eine Meise auf meinem Knie, soweit sind wir dieses Jahr noch nicht. Die Luft über dem See aber flirrt, die Schnecken suchen sich einen Platz für den Tag, die Kirschen werden langsam rot.

They walk quickly along the street, side by side. They don’t touch. They rarely kiss. Their bodies have nothing to say to each other. They have never felt any attraction or even tenderness for each other, and in a way this absence of carnal complicity is reassuring. As if it proves that their union is above all bodily contingencies. As if they have already mourned the loss of something that other couples part with reluctantly, amid tears and rows.” (Leïla Slimani, Adèle)