Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: März, 2020

I am putting my face on you again in order to perceive a very small thing inside your chest

Ich habe das Gefühl, wir führen jetzt ein Episodenleben. Season 1, Episode 1,2,3,4,5,6,7,8,9,10. Pause. Press play. Season 2. Trailer. Exhaustion. Trailer 2. Episode 1,2,3. Season Break. Episode 4,5,6,7,8- Am liebsten würde ich von jedem Tag ein Foto machen. Nicht von einem Moment, sondern von allem. Um zu sehen, was genau geschieht. Um mehr Zeit zu haben, die Unterschiede zu erkennen, aber eben auch das, was bleibt.

Die Planbarkeit kommt abhanden und mir manchmal der Atem. Wir haben selbstverständlich Pläne für in zwei Wochen gemacht, für in drei Monaten, für in einem halten Jahr. Ich höre nun von Menschen, von denen ich seit einem Jahr nicht ein Wort gehört habe, es bleibt bei ein paar Worten, Nebensätzen, Versicherungen, bist du okay, wir sind okay, dann ist’s gut, aber eben ohne Satzzeichen am Ende, ist es das denn? Gut? Und wenn’s doch nur die Pläne wären, aber über die große Panik schreibe ich noch nicht. Wir sind ja noch eine Weile hier.

Die frühen Morgen am Kanal sind mein Atem. Eine Verkörperlichung dessen, was sonst vor allem im Kopf stattfindet. Die Beine werden wach und heiß und schwer, man fühlt alles auf einmal, den Schweiß, die kalte Luft, die erste warme Sonne, das Keuchen und den Wunsch, dass es niemals aufhört, die Müdigkeit und das Drängen nach vorn, eine Kurve noch, eine Ecke noch, eine Brücke noch. Wir laufen Bogen umeinander, die Frauen lächeln einander zu, freundlich, die Männer atmen vor allem immer sehr laut aus.

Ich weiß nicht, was morgen ist, ich habe keine Ahnung. Aber im Wald steht der junge Bärlauch, der schon schmeckt. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man überall kleine hellgrüne Punkte. Das Wasser flimmert. Im Frühling liegt immer dieses Diashowgefühl, die letzten drei bis vier Jahre laufen vor einem ab, jeder Geruch ist belegt, alle sind sehr euphorisch miteinander verwoben wie Patchwork, und Krokusse.

Mir fehlen die Berührungen schon in Woche 2. Im Kopf flackern Hände und Haut herum, wen umarmt man eigentlich wie, wessen Wangenkonsistenz kennt man, welchen Kussgeschmack, welche Handoberfläche, Rauheit, Weichheit, Druckstärken, Oberflächen, Wärmeverteilung. Manchmal erschrecke ich, wenn mein Fuß aus Versehen an ein Stuhlbein stößt, wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, der Stuhl und ich. Wenn ich den Stuhl neben die kleine Kommode schiebe, scheint die Sonne für eine halbe Stunde auf uns beide drauf. Ich glaube, wir mögen das. Plötzlich ist jeder Tag wie der Moment nach dem Kino, in dem man in die Luft tritt und alles wahrnimmt, Farben und Gerüche und Geräusche. Die Straße richtet sich ein im Sonntagsgeräuschpegel.

N. schreibt, drei Sekunden nach dem Aufwachen fühlt sich immer alles an wie Liebeskummer.

(Die Titelzeile ist aus dem Gedicht „at 5:30 in the morning von Mira Gonzalez. Kevin und ich haben außerdem ein Lied geschrieben, gesungen und aufgenommen – gemeinsam mit vielen anderen in und um das Künstler*innen-Kollektiv Barner 16 herum. Hier könnt ihr es hören und sehen. Dieses Lied zu schreiben hat mir zwei Abende lang die Nerven beruhigt.)

Dile que sí

Als ich vom Sport komme, leuchtet einer der gar nicht so kleinen Vorgärten komplett in Lila, alles Krokusse. Es ist noch nicht einmal März. Als am Halleschen Tor alle nur noch über den einen Eingang in die U-Bahn gelangen, bei der sie den gesamten Platz umrunden müssen, sehen viele von ihnen die kleinen Geschäfte in dem Rundhaus zum ersten Mal, das Kaffee, die Büros, die vielen Arztpraxen, den kleinen türkischen Supermarkt. Am Knauf der Tür zu einem der Räume hinter den blauen Wänden der U-Bahn-Station hängt eine Plastiktüte mit Brötchen und einer Dose Thunfisch. Am Abend laufe ich noch ein Stück am Fluss entlang, weil man manchmal Luft braucht, wenn man den ganzen Tag nicht draußen war. Aus dem einen Restaurant tritt eine Frau, vermutlich eine Kellnerin, sie ist ganz in Schwarz gekleidet. In ihren Händen hält sie einen großen Teller Miesmuscheln. Sie tritt aus der Tür, schaut sich auf dem Bürgersteig um, geht zielstrebig zur Hausecke und wird dann von einem großen, schwarzen Hund abgelenkt, der an der Ecke herumschnüffelt. Sie bleibt stehen, ihre Augen kleben auf dem Tier, als hätte sie plötzlich ein altes Gefühl in sich wiedergefunden, ein schönes. Die Frau am anderen Ende der Hundeleine fragt neugierig: „Kann ich helfen?“ Eine Woche lang sagt der Wetterbericht im U-Bahn-Fernseher jeden Morgen: „Windig und frostfrei!“

„She is weirdly with me“, sagt sie über ihre Therapeutin, zu der sie schon seit einer Weile nicht mehr geht. Sie ist die Frau aus einem Film. Und ich erkenne die Gedanken und das „Ach stimmt, genau wie sie gesagt hat“ Jahre später, wenn etwas passiert, dass einem plötzlich nicht mehr einfach nur geschieht, sondern dass man anzusehen und einzuordnen weiß aus einer Art Sicherheitsabstand heraus. Es gibt jetzt Namen für Empfindungen wie das Aliengefühl, den gelernten Impuls, neu programmierte Geduld, die Vernunft, die nicht mehr feindlich stimmt, sondern versöhnlich, die tröstet, die erkennbare Schuld, das wilde Potenzial, und die immerwährende, jedoch ab und an nuschelnde Verantwortung.

„Snow!“ erscheint als Textnachricht auf dem Handy, als ich im Büro am Schreibtisch sitze. Ich hebe den Kopf, sehe aus dem Fenster, es stimmt tatsächlich. Wenn auch nur für ein paar Minuten.

„Sí, dile que sí“ ist der erste Satz auf der Buchseite der Frau, die im überfüllten Bus neben mir steht. Sag ja.

Ich öffne das Fenster und krieche dann unter die große, weiche und vor allem leichte Hotelbettdecke. Das Meer rauscht so laut, dass ich nachts aufwache und mich im tiefen Dunkel kurz frage, wo ich eigentlich bin, bevor es mir wieder einfällt. Am Morgen werde ich wach vom Sonnenaufgang, der alles orange färbt.

Das sind meine Menschen. Die, mit denen ich lebe. Mit denen ich esse und kämpfe, die ich bewundere, die ich kenne. Die, die atmen und heulen, Besorgungen machen, die, die keine Briefe, aber Sprachnachrichten schicken, die die nachtragend sind und so viel vergessen, die schlechte Witze machen, zu früh kommen, zu spät sind, aber da, die im richtigen Moment lachen und keine Zeit mehr haben, die mit den Narben und grauen Haaren und verknoteten Haaren und keinen Haaren und die, die keine Antworten wissen, aber/und/während sie ihre Arme um mich herum falten, wenn ich ihnen sage, ich bin jetzt bereits umarmt zu werden wie ein Kind, eine Frau, eine Freundin, eine Geliebte zur selben Zeit. Das sind meine Menschen, all das. Alle jene. Und alles, was noch kommt.

Dann beginnt der März und junge Frauen laufen durch den Wedding bis nach Mitte, um für ihre Rechte und die anderer zu demonstrieren, sie schenken einander Tampons, sie entschuldigen sich bei jedem, den sie aus Versehen anrempelt, sie applaudieren einander. Sie winken denen, die aus den umliegenden Häusern verwundert auf sie herab schauen. Später stehen wir in der kleinen Bar, in der es immer sehr eng und verraucht, aber selten zu laut ist und wir summen das eine Lied, das der Barkeeper niemals auswählen würde, das wir aber von der ersten bis zur letzten Strophe mitsingen können, der D. und ich, wir singen gegen den coolen Jazz und auch noch draußen auf der Straße und an der Kreuzung und als wir auf seine Mitfahrgelegenheit warten wie erwachsene Leute.

Der Vollmond steht hinter Milchschleiern über der Friedrichstraße, hinter den Bäumen neben der Kirche, wie Grießbrei, in den jemand einen Löffel hat fallen lassen. Mir kommt jemand in kurzer Hose entgegen, dahinter eine Frau mit Atemmaske. Am Abend liegt der nervöse schwarze Hund für siebzehn Minuten auf meinem Schoß und schnarcht leise, meine Hand auf der Stelle zwischen seinem pochenden Bauch und seinem Hals.

„I can’t sleep at night. I have dreams about those people. Faces floating up in the waves, bodies washing up on the beach. Beach by my house.“ (Quirk, The Laundromat)