Axiomensystem

Über ein halbes Jahr ist die Reise nun her, mir kommt es länger vor, und damals passierte soviel gleichzeitig, dass ich vor allem damit beschäftigt war, den Überblick zu behalten. Nun setzt sich der Rest. Mein Atem im zweiten Flugzeug, nachdem das erste am Morgen gecancelt wurde, und das direkt darauf folgende Gähnen, das immer erst dann kommt, wenn man es sich leisten kann. Das Gefühl, die Drei am Flughafen stehen zu sehen in Zürich, und wie sich dieses Gefühl Platz gemacht hat in mir nach dem Horrortag, weil ich mit vielem, aber nicht damit gerechnet hatte. Erschöpfung war das, draußen die Dämmerung, kurz vor zehn am Abend, das debile Grinsen und Heulen und Schweigen, weil ich für gerade Worte dann doch zu müde war, und die Freude darüber, dort zu sein, wo ich mich ein bisschen auskenne, aber mich nicht einmal auskennen muss, weil das andere für mich übernehmen. Als wir ins Wohnzimmer kommen, stehen dort noch ihre Teller, halbvoll, weil sie so überstürzt aufgebrochen waren, um mich abzuholen.

Ich denke an die Seestraße in Como, die Promenadenmenschen, an das sehr freundliche ältere Paar aus Oregon, die mir ein Bier ausgaben und dass oben in der Ecke der Trattoria eine Tuba hing. Ich erinnere die kleinen Zettel im Apartment, die vorherige Gäste in der ganzen Wohnung verteilt hatten, mit Grüßen und Liebesschwüren und Dankesreden in verschiedenen Sprachen. Ich weiß, wie müde ich dort war, wie das Licht morgens durch die Ritzen der Fensterläden fiel und ich nicht wusste, ob das nicht schon reicht. Das Licht zu betrachten, aber woanders.

Neulich träumte ich von Modena, auch jetzt erst, nicht von der Stadt, aber dem Hinterland. Vom Lesen und Liegen und dem kabellosen, herumflitzendenden Rasenmäher. Im Sommer letztes Jahr roch die Luft ständig nach Feuer. Von der Wiese hinter den Hecken kann man die umliegenden Ortschaften sehen. Die ersten Mücken kamen mittags und man muss Glück haben, ein bisschen Wind zu erwischen. Das Telefon wurde sehr schnell heiß in der Hand, alles wurde sehr schnell heiß in der Hand. Immer, wenn es wieder soweit war, ging ich schwimmen. Der Gedanke, jeden Moment ins Haus gehen zu können, um zu schreiben und Melone zu essen, hilft eigentlich bei allem, ich habe mir dort vorgenommen, das mindestens einmal im Jahr zu tun, irgendwo zu sein, wo ich schreiben kann und kaltes Obst essen, auf die Melone bestehe ich nicht, aber auf die Möglichkeit.

Der Brandgeruch in Verbindung mit Hitze erinnert mich noch immer an unseren Urlaub zu der Zeit, als Jugoslawien noch existierte und ich gerade lernte zu schwimmen mit den zerfallenden Stoffschuhen an den Füßen, weil meine Eltern der Meinung waren, die würden vor Seeigeln schützen, es waren keine Schwimmschuhe, im Wasser löste sich der Kleber, der Stoff umwirbelte meine Füße in Fransen und Fäden. Wir fuhren mit dem Auto durch die Flammen, wir Kinder saßen im Fußraum, ich weiß nicht, ob ich mich an meine Angst erinnere oder es nur das Gefühl ist, das sei eine Situation, in der man Angst gehabt haben müsste, als Kind erscheint Natur bedrohlich und unausweichlich zugleich. Du liebst die Wellen, aber du weißt auch, dass du sie nicht begreifst.

In Mailand las ich zwischen dicken Hummeln davon, dass die Kapitänin der SeaWatch verhaftet wurde. Neulich fand ich in meinem Portmonee ein Stück Papier aus dieser Zeit, auf dem steht: „Man soll sich sagen: Ich lasse mich nicht im Stich.“ In Bologna wurde ich langsam weicher, mein Nacken auch. Die Botanischen Gärten jeder Stadt wurden meine Zufluchtsorte in der Hitze. Schatten und viel pflanzliche Geometrie. An der einen Kreuzung begegnete ich einem, ich vermute, betrunkenen Mann, der mich, als ich an ihm vorüberging, in die Schulter boxte, mir hinterher brüllte auf Italienisch, so wie es einer Frau überall passieren kann. Niemand sagte etwas, auch ich nicht. Ich ging weiter, an der Ampel hatte sich das Herzklopfen wieder beruhigt, wir machen das so seit Jahren, und ich frage mich jedes Mal wieder, was wäre denn angemessen, was machbar?

Ich erinnere mich an die Trostlosigkeit von Formia, den Dreck, beides hat mich im ersten Moment erschreckt und im zweiten gerührt, weil die Menschen dort anderes zu tun hatten, als den Schein aufrecht zu erhalten. Die Mädchen lagen mit ihren Handys zu zweit auf einer Liege. Der Sonnenbrillenverkäufer machte eine Raucherpause im Schatten eines unbesetzten Sonnenschirms, die Brillen pinselte er mit einem Staubwedel ab. Kleine Fische schwammen im Meer neben Mikroplastikstückchen. Es roch nach Gras. Der Verlauf von Meerblau ist der schönste, den ich kenne.

„I think, I should travel and figure out who I am away from this place. And how to be attracted to people who are not insane. Last time I felt like I was running away. This time I feel like I am running towards something. I am just not sure what it is, yet.“ (Shawna in Tales of the City)