Something in that tenderness

Auf dem Land früh aufwachen und nur in Latschen runter zum See gehen, bis zu den Knien nass werden vom Tau, die Frösche hören und die Vögel und nichts verstehen, nur die Ruhe, nur die Ruhe, einatmen ausatmen, mich an diesen Tag vor einem Jahr erinnern und wie anders alles war. Man kann sich häuten, man muss sogar vielleicht.

Der Herr hinter mir fragt zum dritten Mal in sein Telefon: „Can you save some dinner?“, die Frau neben ihm schaut ihn still und wütend an, sie erinnert mich an Cate Blanchett. Neben mir komponiert ein Mann ein LinkedIn-Posting wie einen Marsch auf dem Klavier, er löscht jedes zweite Wort, tippt es erneut, leicht verändert, seine Finger hüpfen auf und ab und hin und her, sein Handgelenk spielt eine wesentliche Rolle dabei. Nach einer Weile setzt er ans Ende des Textes ein Herz-Emoji und veröffentlicht ihn. Er schnäuzt sich, ich möchte glauben, zufrieden.

Als ich in der Badewanne lag, ist das große Handtuch dazu gerutscht, untergetaucht, hat sich verteilt zwischen Wasser und Haut, es wurde so schwer wie manche Tage, ich wäre beinahe liegengeblieben, aber das Wasser wurde kalt.

Irgendjemand sagte neulich im Bus zum Bahnhof etwas von einem verstauchten Knöchel, zwei jugendliche Jungs in einem Gespräch und ich dachte mir, das ist auch eine Art von Privileg. Also artikulieren zu können, wo der Schmerzt sitzt, wo er herkommt, zu wissen, wen man fragen kann, damit sich was daran ändert, zu wissen, dass sich höchstwahrscheinlich etwas daran ändern wird, nicht hysterisch zu werden. Und als ich dann am Zürisee herumlief mit J. und wir über den Zweifel sprachen, der sich eingeschlichen hat mit den Jahren und unserem Alter, der Zweifel darüber, ob unsere Geschichten aus weißen, privilegierten Haushalten überhaupt noch erzählenswert sind (denn erzählbar sind sie ja immer, das ist ein Unterschied), als wir von dem Zweifel sprechen und der Scham, die auch mitschwingt und noch etwas anderes ist als das Impostersyndrom, da fiel mir wieder ein, was ich vor fünf, sechs Jahren schon mal dachte, nämlich, dass man sich rantrauen muss an den Schmerz, um ihn aufschreiben zu können, unabhängig davon, was dann mit dem Geschriebenem passiert, die Herausforderung bestand für mich immer darin, hinauszugehen und all dem ins Gesicht zu sehen, was man sich ausdenken kann, man muss sich diesen Kampf ja liefern, auch mit dem, was man sich nicht ausdenken muss, bei dem auch permanent die Frage im Raum steht, wer zuerst wegschaut. Und man muss diesen Kampf gewinnen (so sehr ich kriegerische Metaphern auch hasse, das Wort Kampf ist mir noch immer zuwider). Und Juli Zeh sagte neulich in einem Interview, der Text sei ihr egal, es gehe ihr um das Schreiben, und der J. sagte auch, es gehe ihm um den Prozess, während ich auf die Masten der kleinen Segelboote schaute und verneinte. Das Schreiben sei furchtbar, geschrieben haben sei besser. Dann bestellte J. Mohnkuchen und jetzt weiß ich, ich hatte Unrecht. Ich hatte das gesagt, weil es die Antwort ist, die ich früher gegeben hätte. Ergebnisbezogen. Das hat sich verändert. So wie ich streiten gehasst habe früher und jetzt weiß, ohne geht es nicht (also gar nicht, meine ich, und so viel mehr als das). Ich weiß jetzt: Wenn ich streite, dann ist das eine Art Kompliment. Wenn ich schreibe, diskutiere ich permanent mit mir selbst ohne sprechen zu müssen. (Ein zärtlicher Kampf, ich hätte nie gedacht, das so sagen zu können.)

Am Morgen nieselt es, ich ziehe die Vorhänge beiseite, öffne die große Glastür und es klingt, als würden sehr viele kleine Käfer Trampolin springen. Ich stehe da eine Weile, bis die Katze sich beschwert und die Kirchturmglocken läuten.

Mit S. erst die Wahlergebnisse und dann „Wish I was here“ geschaut und festgestellt, ich habe mich selbst noch nie mit einer Perücke gesehen. Jedenfalls nicht im Alter von größer fünf. Vielleicht hat das etwas mit der Unlust am Verkleiden zu tun. Auch 24 Stunden später wechseln sich Frustration, Ratlosigkeit und Hoffnung in zufälliger Weise in mir ab, C. fragt, ob wir nicht ein Crowdfunding für Buslinien in Brandenburg aufsetzen sollen als Spenden für die Kommunen, man muss doch irgendwas tun, und ich versuche mich zu erinnern an die Zeit vor dem Mauerfall, ich versuche mich zu erinnern an das dumpfe Gefühl und die Sprachlosigkeit und es ist nur noch eine Ahnung, und auch an dieser Stelle flattern Erleichterung und Entsetzen. (Wie lang wird das anhalten?)

Ich glaube, ich werde „Hold Your Own“ von Kate Tempest mit auf die Reise nehmen.

(…) Give her a face that is kind, that belongs
To a woman you know
Who is strong
And believes in the rightness of doing things wrong.

Give her a body that breathes deep at night
That is warm and unending; as total as light.

Let her live.

(Tiresias – Kate Tempest)