Geophyten

In der Bahn nach Hause riecht heute jemand nach gerösteter Reiswaffel, aber ich kann nicht ausmachen, wer genau (der innere Kritiker fragt sofort, warum ich schon wieder einen Text mit Gerüchen beginne, ich glaube, andere haben Hobbys, ich habe Schnupfen). Ich lese die ersten Seiten von Sašas „Herkunft“, schon bis Seite 9 kann ich nicht so viele Seiten umknicken, wie ich mir Sätze merken möchte. Berlin schwappt zwischen der hysterischen Sanftheit des Frühlings und dem ADHS des Winters herum, vieles verschwimmt, auch die Gesichtsausdrücke, Aliengefühle. Die Menschen wickeln sich so oft die Schals um den Hals und wieder ab, manchmal bekommen sie Muskelkater davon, nicht nur in den Armen, sondern auch im Gehirn. Wir tapern uns räuspernd langsam durch den Tiergarten, eben hat der Himmel noch in allen Farben krakelt und dann ist’s doch wieder einfach nur dunkel, die guten Dinge funktionieren saisonunabhängig, einander auf dem Heimweg nochmal kurz festzuhalten zum Beispiel, weil man sich den kleinen, ungeplanten Umweg wert ist. An den guten Tagen ist man zwar so müde, dass man kaum noch geradeaus schauen kann, aber merkt es nicht. An den schlechten schleppt man sich vorsichtig an den Rand, um nicht aufzufallen, dort gehen die Leute etwas langsamer.

Wir trinken die erste Weißweinschorle des Jahres ohne Jacke und in der Sonne und ich erinnere mich, ich habe das noch nicht so oft erlebt, dass Menschen Auseinandersetzung und Streit auch als Kompliment verstehen, als Hinwendung und sanften Wind, der ein bisschen was wegräumt. Ich verstehe die angezogenen Schultern, ich verstehe die Verteidigungshaltung, ich weiß, woher das kommt, aber wer Sprachlosigkeit erlebt hat, weiß die Wärme von Reibung zu schätzen, die Geste des direkten Blicks. Man braucht keine Einigung, um einander etwas wert zu sein. Und in Skepsis liegen auch Großzügigkeit und Tastsinn, insofern sie jemanden mitdenkt und nicht ausschließlich aus Reflex besteht. Wir sammeln einander also Flusen von den Pullovern und das Jahr ist schon wieder zu einem Viertel vorüber, wir pflücken auch Erkenntnisse und ernten nach lautem Lachen böse Blicke im Ruheabteil. In einem Einzelhotelbett kann man nicht so gut schlafen, stelle ich fest, weil es an allen Stellen viel zu schnell zu Ende ist. Wann hast du eigentlich das letzte Mal eine eigentlich unnötige, aber warme Geste geschenkt, die ohne Zweifel und genau so gemeint war? Schau, am Halleschen Tor blühen jetzt die ersten Büsche, manche bemerken das auch und ihr Blick wird ganz weich.

So when the ‚cause ain’t dead on arrival and you couldn’t shouldn’t wouldn’t for free, do not hang your cause on revival, cause now looking is bringing you grief. So when the cause is dead on arrival and you coulda shoulda woulda for free. I wouldn’t have forced it on the minute. It’s a very hard thing to have grief. Ah, give it a minute. We’re dancing in it.“ (Big Red Machine)