Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Februar, 2019

„Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer“

Der späte Februar und der beginnende März waren schon letztes Jahr eine Zeit, in der man abends kurz nach sieben noch tippend am geöffneten Fenster sitzen konnte ohne zu frieren, jedenfalls für ein paar Minuten, ein paar mehr. Eine Zeit, in der der Wind eine Atempause macht, die Tage so zukunftsgewandt, dass man bei der Vergangenheit wieder rauskommt. Der kleine Pathos, wenn es abends schon nach Sonne riecht und die Nacht nur langsam drüber klettert, wenn man Fahrradfahren kann, ohne dass einem die Wangen zerrupft werden von der Eisluft oder die Finger abfallen. Wenn die Haut sich schon windet, weil sie weiß, was kommen wird, aber noch nicht da ist, und auch diese Ahnung funktioniert ja nur im Abgleich, die funktioniert nur, weil wir das schon einmal erlebt haben (nicht nur einmal, die meisten von uns mehrfach), und weil wir die Bilder kennen. Wir können uns ja selten angemessen nach etwas sehnen, was wir noch nie gehabt haben, in diesen Fällen ist es relativ wahrscheinlich, dass die Vorstellung, an der die Sehnsucht hängt, schlenkert und an der Realität vorbei schrammt. Marion Brasch sagt im Interview, ihr Bruder Thomas sei einer von diesen liebens- und hassenswerten Menschen gewesen, „das macht eben solche Charaktere auch aus, dass sie nicht nur die Menschen auf ihre Seite ziehen, weil sie so toll sind, sondern auch weil sie sie absorbieren, er war so jemand, der auch Menschen getrunken hat“.

Mehr ein- als ausatmen. Der Frühling ist der erste Herbst des Jahres. Er riecht nach Pfannkuchen.

C’est par ici.

In den jungen, rauschenden Jahren denkt man bei jedem großen Verlust, mitunter bei jedem Tod, der einem begegnet: „Das erlebe nur ich“. Eine Dekade später fragt man sich: Wie kann denn jemand das noch nie erlebt haben? Nun werden die Unversehrten zur Ausnahme. Was sich darin spiegelt: ihre Einsamkeit. Und direkt daneben der Trost einer gemeinsamen Schmerzerfahrung, die zwar nicht gemeinsam erlebt, aber dennoch gemeinsam erinnert und verarbeitet wurde, der Trost, den man sich früher nicht hatte vorstellen können, im Leben nicht. Diejenigen mit den Brüchen erkennen einander. Man begreift sich in den ersten Minuten einer Begegnung.

Der Wendepunkt jedoch, der von hier zu da, von Abgrenzung zu Umarmung, von deiner zu unserer Biografie ist nur schwer auszumachen. Es könnte sein, dass es ihn gar nicht gibt und man unterwegs in den Kurven nur den Split von der Straße fegt, der sich unten im Tal zu einem Hügel zusammenrollt. Niemand weiß, wer das war und wann und mit wem. Aber das Grundstück ist schon verkauft, deswegen interessiert es niemanden mehr und die zukünftigen Besitzer werden es nicht besser gewusst haben, die kennen kein früher, und wenn, dann nur eines von vergilbtem Papier oder Dateien ohne Namen. Die Lebhaftigkeit von Interesse und Vorstellungskraft, wenn einem jemand so etwas zeigt (meist auch mit sichtbarer Erwartung in den Augenbrauen), hält sich in Grenzen.

In diesem Alter dann, wenn man das erste oder zweite Mal darüber nachdenkt, ob es eine realistische Option wäre, eine Immobilie zu erwerben, versteht man auch, dass es nur sehr selten im Leben um einen Abschluss geht, um ein wirkliches Hintersichlassen (man wird auch in diesem Alter die korrekte Schreibweise des Ausdrucks noch nicht kennen), sondern dass es in den meisten Fällen um ein Weitermachen trotz aller Umstände geht. Als wir durch den Wald am Wannsee spazieren gehen, es ist Sonntag, sagt P.: „Nichts ist sicher. Das war noch nie der Fall. Man vergisst das nur ab und an.“ Das mit dem Vergessen kann also passieren. In den meisten Fällen tauchen die Dinge, Erinnertes, die wichtigen Sätze dann irgendwann an anderer Stelle wieder auf (ob man sie wiedererkennt, wird hier offengelassen). Das Erlebte zu internalisieren, einen Ort dafür zu finden, der einem nicht zu nahe liegt, also trotz allem, und dann weiterzumachen, immer noch und wieder, das ist die Aufgabe. Nicht Auflösung. Erlebtes verdunstet nicht oder zerfällt.