37,5 Tage

In diesem Jahr sind bereits 1800 flüchtende Menschen im Mittelmeer ertrunken. Es kämen weniger in Europa an, sagt die Stimme im Radio, aber man hätte eben diese hohe Sterberate. Ich steige aus der Dusche und bleibe sitzen für zehn Minuten und an jeder Ampel auf dem Weg ins Büro frage ich mich, ob nicht einmal jemand die Gesichter fotografieren könnte, die Gesichter der Leute, die diese Meldung morgens in der Dusche hören. Und ob diese Gesichter mehr Mitgefühl auslösen würden als die konkrete Zahl im Satz, die die Minderheit zu bewegen scheint. Die Europäer sind sich ja dann doch gern selbst die nächsten, ich hab das in der Schule mal anders gelernt und in meiner Familie, was erzählt man den Kindern in der Schule eigentlich gerade, wie erklärt man das, was dort passiert? Es genügt ja schon, einen Text oder ein Hörstück mit Seenotrettern zu twittern, zu posten, und schon hat man jene am Hals, die von sich sagen: „Nein, also ein Nazi bin ich nicht, aber dabei, da haben sie schon recht, also das kann man ja nicht auf sich sitzen lassen, das bezahlen wir ja alle.“ Und eine Frage, von den vielen, die ich habe, ist dabei ja auch immer, ob sie zu Hause sitzen mit Taschenrechnern und sich jeden Abend in den Schlaf kalkulieren, ob man überhaupt schlafen kann mit so einem Gemüt, und ob die Leute wirklich darauf warten, dass eine Agentur kommt und sagt, heute machen wir mal eine Kampagne fürs Menschenrecht, heute schreiben wir das mal auf Plakate und machen Instagram-Anzeigen, vielleicht bekleben wir die Wassermelonen im Lidl mit so kleinen Stickern „Ich bin so schwer wie dein Gewissen #heulsmiley“. Da würde doch bestimmt jemand eine Instastory machen, witziger Aufkleber haha 264 Likes, kurz trending, wer weiß. Da kommt halt keine Agentur, nicht einmal eine Agentur, sowieso keine Agentur, erst recht keine Agentur, da kommt gerade keiner. Und stell dir vor, wir würden die Strände sperren am Mittelmeer, was da los wäre. Strand geschlossen wegen Trauer. Heute keine Wurst. Heute keine Fanta. Ob morgen, das wissen wir noch nicht, vielleicht, wir schauen mal, wie viel über Nacht losfahren, wie viele es schaffen, wie viele nicht, wir entscheiden das morgen, Eis am Stiel, wenn keiner mehr abgewiesen wird, Beschwerden, ja mei, was sollen wir machen. Stell dir vor, wenn alle Schwarz tragen würden, also nicht wie in Berlin, sondern so richtig, mit dem Gesicht dazu, stellt euch vor, ganz Europa trauernd in Schwarz und schweigend, alle legten ihre Arbeit nieder, denn wenn man 1800 Trauerfeiern abhalten würde, und wir rechnen hier nur mit einer Standardfeier, dieser halbstündigen, das sind die kleinen, die arme Leute kriegen, wenn überhaupt, dann wären wir 900 Stunden in Trauer, das sind 37,5 Tage, das ist mehr als ein Monat. Keine Fanta, Europa, hm?

Und was, wenn wir alle diesen Text kopieren? Und dann noch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, und ihn morgens in der U-Bahn murmeln statt rumzutippen, wenn wir sie all unseren Nachbarinnen und Nachbarn in den Briefkasten stecken, wenn wir beides im Hausflur summen und an unsere Abschiedsformeln dranhängen, einfach immer einen Satz, und erst würden sich alle wundern, aber dann würde wenigstens das andere Gemurmel übertönt, das Zischen, dieses nervöse Gezappel, diese vergifteten Blicke, irgendwo müssen wir ja anfangen, einen neuen Ton anzuschlagen, den jetzigen hält ja niemand mehr aus, der tötet jeden Tag.