Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: September, 2017

Nicht weniger als das

Auf dem Weg zum Wahllokal muss ich erst am Berlin-Marathon vorbei. Die Menschen sind nass, irgendwas zwischen Regen und Schweiß, die Luft ist feucht. Am Rand stehen ein paar Zuschauer. Und wie jedes Mal versuche ich auf dem Weg zum Wahllokal alles wahrzunehmen, den Moment zu nutzen, um nicht nur nebenbei oder routiniert über Privilegien und Errungenschaften nachzudenken, darüber, wie ich mir die Zukunft wünsche, und mit mir wünschen meine ich vor allem, wie ich sie mir vorstelle, eben nicht nur für mich. Und dann warte ich am Straßenrand, während die Menschen vorbei japsen, und man könnte auch das jetzt noch einmal von schräg oben betrachten und direkt ein Symbol daraus machen, aber es ist nicht das Schlechteste, kurz vor dem Wählen noch einmal ein paar Menschen zu sehen, ganz unterschiedliche, und wie sie miteinander vorwärts laufen, während andere am Rand stehen und ihnen Getränke hinhalten, sie umarmen oder anfeuern. Der Rest von Kreuzberg liegt verschlafen in der Gegend herum, das kleine Hinweisschild vor dem Wahllokal ist voller Matsch. Im Hinterhof dann Holzstufen, die nach unten ins Souterrain führen, ein Mensch vom polnischen Radio fängt jene ab, die schon gewählt haben und fragt sie, warum das ein besonderer Tag für Deutschland ist. Daneben warten zwei, Kinder springen herum, man lächelt einander an. Der ältere Herr vor mir beobachtet ganz genau, wer so kommt, und freut sich, tippelt ungeduldig vom einen Bein aufs andere, beginnt Gespräche mit den Wartenden. „Es ist doch so toll, dass wir wählen können“, sagt er und ich wehre mich nicht gegen Gänsehaut. Er bedankt sich auch bei den Wahlhelfern, bei jedem einzelnen, für die Unterstützung. Über dem Eingang zum Wahllokal hängt eine tropfende Girlande aus Wimpeln, eher aus Versehen, drinnen die Berlin-, Deutschland- und Europaflagge.

Am Morgen schickte mir meine Mutter ein Foto, ich bin ungefähr 3 Jahre alt, sie müsste demnach auf dem Bild 21 Jahre alt sein. Und sie hätte dieses Bild von uns beiden an keinem besseren Tag als heute schicken können, weil wir uns nicht nur an Wahltagen beieinander bedanken, fürs Dasein, fürs Durchhalten, aber dann eben auch. Meine Familie lebte in der DDR, ich glücklicherweise nur fünf Jahre lang, eingeschult wurde ich erst nach der Wende. Aber die Repression und Gewalt dieses Staates hatten einen großen Einfluss auf unser Leben, manche Traumata aus dieser Zeit halten bis heute. Ich wünsche uns eine Zukunft, in der Demokratie und Freiheit, Solidarität und Diversität, Respekt, Unterstützung und Solidarität eine große Rolle spielen, eine Zukunft, in der wir anerkennen, was wir haben, und es mit denen teilen, die nicht so privilegiert sind, eine Gesellschaft, in der jeder lieben und leben darf, wen und wie er oder sie will, in der wir integrieren statt auszusortieren, in der wir mit Unterstützung agieren statt Ängste zu schüren, in der wir Kompromisse finden statt zynisch und hart zu werden. Ich wünsche uns eine Gesellschaft, in der wir – statt unsere Hornhaut zu trainieren – weich miteinander bleiben.

Está de esperanças

Im Dunkeln losfliegen und im Dunkeln ankommen ist, als würde man Fahrstuhl fahren. Oder Rohrpost. Sich einfach in einen Karton setzen und dann fliegen ein paar Lichter vorbei und man kommt ganz woanders wieder raus. Dort, wo die Luft sofort feuchter ist, der Wind legt einem sofort diesen Film ins Haar, der sagt, du bist hier nicht zu Hause, aber manchmal wärst du es gern, man könnte ja mal überlegen, aber jetzt schau erst einmal. In einem ganz fremden Städten ankommen ist auch, als verließe man nach einem Film das Kino, weil man plötzlich wieder hinsieht. Als hätte jeder Schritt eine Bedeutung. Dabei sind die Farben ja auch nur dieselben an einem neuen Ort. Fahrtkartenautomaten finden, Bahnen finden und in der Bahn dann irgendwann die Musik von den Ohren nehmen, um hinzuhören. Portugiesisch klingt immer so, als könne nichts passieren. Bolhao aussteigen und den Weg gleich finden, aber langsam gehen, an dem blau gekachelten Eckhaus und den vielen dunklen Schaufenstern vorbei, die in den nächsten Tagen zur Gewohnheit gehören werden. Man sucht sich ja schnell seine Fixpunkte, wenn man neu ist. Das ist der Bäcker, das ist der Eingang zu U-Bahn, das ist das Parkhaus, hier muss ich abbiegen. Und am nächsten Tag erkennt man alles wieder. Am dritten Tag denkt man schon nicht mehr drüber nach und wenn doch, dann nur als „Kenn ich, kenn ich, kenn ich“. Die Schienen scheinen hier in höheren Tönen zu quietschen, die Schrift trägt Akzente. Über dem Abendessen schweben Fledermäuse. Das Licht ist ständig orange.

Am Hafen auf der anderen Seite sitzen, Portwein trinken und dann spielt der Mann mit der Trompete leider Despacito.

Am letzten Tag des Augusts steigen wir ins Auto und fahren in den Süden. Beim Aussteigen sieht man nur Sand, ein paar Sonnenhüte und ein, zwei aufgestellte Mülleimer, sonst nichts. Dem Rauschen entgegen rennen und dann stehen bleiben und einatmen und genau wissen, dass es das ist, was man öfter haben sollte. Den Wind, und das Blau und dass es sonst nicht viel gibt. Außer einem leisen Hallo seit dem letzten Jahr und einer Träne. Das Meer ist kein anderes, aber wir sind es. Später im Wind schlafen.

Es gibt manche Sachen, die sind allein schöner. Und manche, die macht man besser zu zweit.

Am Stadtstrand stehen die Möwen auf dem Sand wie eine Armee, eine durcheinander gewürfelte. Sie stehen und schauen und irgendwann kommt der kleine Junge und will sie erschrecken, rennt mitten hinein, aber die wenigsten fliegen auf, die meisten machen nur ein, zwei Schritte zur Seite. Da muss schon was Größeres kommen.

„Wer nie wütend wird, kann sich nicht aktualisieren“, sagt Dr. Maschke in „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky. Das Buch mit Blick aufs Meer lesen, also ganz zu Ende, und immer laut lachen und später weinen und es sofort auf Papier vorbestellen, weil es eines dieser Bücher ist, die man besitzen möchte, um immer wieder nachzusehen, sich zu vergewissern, es anderen zu zeigen oder vorzulesen, wenn es wichtig wird.

In der Casa de Música von Antonín Dvorák überrollt werden, fast wie vom Meer und nicht selbst hindurch tauchen, sondern sich untertauchen lassen. Einfach nichts tun und warten, was passiert. Der ältere, englische Herr neben mir schläft nach ein paar Takten ein, die Hände ordentlich auf der Anzughose abgelegt, aber später dann wacht er wieder auf und seine Unterarme zucken mit. Manch einer würde tanzen, ihn ergreift es so sehr, dass er nicht still sitzen kann, doch seine Miene verzieht sich nicht eine Sekunde.

Es sind die kleinen Rotunden aus buntem Glas, die auf manchen zerfallenen, zumindest alten Häusern sitzen wie verloren gegangene Hüte. Die einen überraschen, weil sie wie aus einer anderen Zeit gefallen immer noch dort herumliegen. Als würde gleich jemand mit großem Namen oder zumindest einer Aufgabe, mit einem Thema im Hirn darin herumlaufen oder zumindest so stehen, dass sein Kopf durch das bunte Glas zu sehen ist. Denn wer eine Aufgabe hat, der muss in die Ferne sehen, manchmal nur für einen Moment, auf jeden Fall tut ein Ausblick gut, wenn man noch etwas vorhat mit sich und der Welt, man kommt so der Lösung häufig näher.

Das Grinsen des alten Mannes, der nicht etwa die Welt, sondern vor allem sich selbst in der Scheibe des Bäckers ansieht. Wie die Menschen an beiden Ampeln an der Kreuzung immer den Knopf suchen, der sich aber etwas weiter weg hinter der Laterne versteckt, und aus Ungeduld dann immer bei Rot gehen, weil er ihnen zu weit weg ist. Wie die Wolken in Streifen die Dächer verbinden wie Wäscheleinen. Das Knattern der Flugzeuge, die gerade Kunststücke über dem Douro fliegen. Der Singsang der Dame, die am Nebentisch über die Handymusik ihres Sitznachbarn einfach hinweg trompetet.

Die großen Wahrheiten im Halbschatten erörtern. Was uns umgibt, ist weiches Gebrüll. Seit wir da sind, liegt diese traurige Banane auf der Mauer neben dem Apartment, auch noch am letzten Tag.