Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: August, 2017

Weird fishes

„Die Dunkelheit im August ist die schönste aller Dunkelheiten. Sie ist nicht hell und offen wie die Dunkelheit im Juni, nicht so voller Möglichkeiten, aber auch nicht so verschlossen und abgeschottet wie die Dunkelheit im Herbst oder Winter. Das Vergangene, das Frühjahr und der Sommer, steht in der August-Dunkelheit noch immer offen, während man in das Künftige, den Herbst und den Winter, schon hineinsehen kann, und doch ist man noch kein Teil davon.“ (Karl Ove Knausgård)

Über zwanzig Jahre habe sie für ihn gearbeitet, sagt sie, während sie die Blumen einzeln aus dem Strauß im Eimer zupft und die Stiele in ihrer Hand neu arrangiert, er sei krank gewesen, die letzten zwei Jahre habe sie bei ihm gewohnt. Im Gästezimmer, gleich hier ein paar Straßen weiter. Nun sei er einfach gestorben. Eigentlich habe sie ja ihre kleine Wohnung in Marienfelde, die hat sie nicht aufgegeben, immer mal sei sie zurück zum Blumengießen. Aber sogar übernachtet habe sie hier, man habe ihn ja nicht mehr allein lassen können. Mittags habe sie den Blumenladen abgeschlossen, um ihm etwas zu kochen und abends natürlich. Bei ihr zu Hause sei es so still jetzt, sie müsse sich erst einmal wieder einleben. Wenigstens habe sie das Auto noch. Und der Kioskbesitzer, von dem habe sie sich eben Fotos vom Handy abfotografiert. Von ihr und ihrem Chef. Erst vor ein paar Tagen habe er die von den beiden gemacht, da hat er noch gelebt. Sie könne ja nicht einfach in seinen Schubladen wühlen da oben in der Wohnung, sowas mache sie nicht. Aber die Bilder seien schön, was zu haben, was man angucken kann, das sei ja wichtig. Andenken. Dass immer alle krank werden, sagt sie und seufzt. Auf das Papier für die Blumen sind Rosen gedruckt. Dann setzt sie sich wieder nach draußen, der Spätiverkäufer wartet auf einem der beiden Plastikstühle. Dort setzt sie sich wieder hin, winkt mir noch einmal. Den Verlust sieht man den wenigsten an.

Morgens kurz nach dem Aufstehen direkt ins Becken. Das sei der beste Moment, sagt R., mit dem Kopf unter Wasser, das mache alles leer, alles frei, alles verschwunden. Ein paar Bahnen später riecht man den frisch gebrühten Kaffee über der Stadt, in der Auslage Eibrötchen mit Petersilie.

Als wir mit dem Negroni draußen sitzen, kommt die kleine Frau mit dem roten Kopftuch und der Plastikmappe vorbei. Darin Folien mit ihren Zeichnungen und Bildern. Manche mit Buntstift, eins mit Tinte, manche mit Bleistift. Bei einem Laden in der Nähe würde sie die Drucke machen lassen, ob man ihr nicht eins abkaufen wolle. Nach dem Film sitzen wir ein paar Meter weiter, wieder draußen und eine jüngere Frau kommt vorbei, sie fragt nach Geld, neben uns auch die kleine Gruppe Menschen auf der nächsten Bank. Der eine mit den weißen Turnschuhen, die aussehen, als sei die Socke schon eingenäht, steht als einziger der Gruppe, die anderen sitzen. Als die junge Frau kommt und um eine Spende bittet, schaut er sie und fragt: „Na, kannste denn was?“ Sie lächelt verlegen, schaut auf den Boden, er fragt sie, woher sie kommt, sie murmelt. Am Ende gibt er ihr etwas, aber das Unbehagen ist ihr anzusehen.

Das Meckern sei nur seine Art des sich Wunderns, sagt Opi.

Auf dem Heimweg über den Mauerstreifen und die Friedrichstraße mit Absicht langsamer fahren, weil die Wolken sich türmen, so klar und gleichzeitig ungestüm, als wäre das Meer direkt um die Ecke, diese Tage sind die schönsten in der Stadt. Diejenigen, die auf der Brücke kurz anhalten und übers Wasser schauen, aufs Bodemuseum und den Fernsehturm, die wissen’s auch. Weiter hinten drehen sich Touristen um und schauen verwundert, denn die ganze Friedrichstraße riecht nach Pferdemist.

Everybody leaves if they get the chance.

Die Nacht auf links

In dieser einen Nacht in Brandenburg unterm Himmel sitzen, die Sterne angucken und relativ genau wissen, wo man sich befindet, die eigenen Koordinaten kennen, die Maße, den Standort. Näher als früher. Wieder denken: „Ich bin jetzt älter als er, als er starb. Was hat er damals schon gewusst, und vor allem, was nicht?“ C., N. und ich stapfen nachts über diese Landstraße, links und rechts und vorne und hinten kein Licht außer der Taschenlampe, der Wald macht Geräusche wie ein nervöses Tier, und auch hier taucht nochmal ein Satz auf, den ich mit K. vor ein paar Jahren in Mitte einmal sagte, als wir aus diesem Club stolperten, die Arme ineinander verhakt, die Füße stolpernd: „Es ist noch so weit bis geradeaus.“ Das war auch so eine Nacht damals, in der man das Licht des nächsten Tages schon ahnen konnte, die Musik noch mit sich herumschleppte und in der Stille dieser frühen Stunden alles nachhallte. Jetzt setzen wir die Schritte auf Asphalt und außer uns ist sonst niemand da. Nur wir drei und irgendwann die Bahnschienen und dann die ersten Häuser des nächsten Ortes. Als wir in den Jugendherbergsbetten liegen, wird es hell und es beginnt zu regnen.

„Nur die wenigsten Geschichten verkraften die Realität“, sagt F., „deswegen ist die Kunst nicht, die Geschichte im Nachhinein der Realität anzupassen, das geht meistens schief, sondern eine Geschichte zu schreiben, die von der Realität lebt, daraus erwächst.“

Die drei älteren Herren mit der Lederhaut, gebräunt in den Tagen, an denen es nicht regnete, der kleine Strand mit Blick auf den grünen Streifen ist ihr Vorgarten, vielleicht auch eher der hinterm Haus, wo man die Nachbarn vergisst, wenn man sich nicht gerade beschwert. Sie trinken Bier. Und der eine, ich nenne ihn sofort Wolfgang innen drin, trägt seine Angel auf und ab, versucht im Abendlicht noch eine gute Stelle zu finden, steht irgendwann nachdenklich am Ufer und schaut hinüber zu dem sich langsam in der Strömung drehenden Schiff, er kneift den Po ein bisschen zusammen, bekommt kleine ledrige Grübchen, er scheint so tagelang gestanden zu haben, es gibt keine weißen Streifen, keine Kleiderüberreste. Später watet er noch tiefer ins Wasser, die Arme in die Höhe gestreckt, als hebe ihn gleich jemand heraus. Am Ufer berlinert man über Krankschreibungen und Sanitätshäuser, Terminfindungsprobleme und Arbeitslosengeld. Das Hausboot, das vorbeifährt, liegt manchmal an der Warschauer Brücke in einer anderen Galaxie.

Wir steigen aus der U-Bahn da oben im Wedding und es ist, als kotze die Stadt in genau diesem Moment alles aus sich heraus, die Sirenen, die Spucke, der tiefliegende Sommer, die vom Schweiß an der Stirn klebenden Haare, die Halbsätze, die ins Telefon gebrüllt werden, weil man sonst nichts versteht und keine Hand frei hat zum Tippen und keine Zeit, um einfach die Klappe zu halten und abzuwarten. Die Stadt im Zustand der Überforderung, in dem sie sich eingerichtet hat, dass sie gar nicht mehr weiß, wie es ist, nicht immer einen halben Schritt zu weit zu gehen. Lautstärke als Beweis, aber für was eigentlich? Im Getränkemarkt stehen von jeder Sorte immer nur zwei Flaschen im Regal, dazwischen hat man Platz gelassen, die Gänge sehen aus wie die einer Ausstellung für Limonadengeschmack 2017. Die Stirn auf dem Kronkorken in einem der Kühlschränke ablegen. Kurz überlegen, dort einzuziehen. Bis die Kasse piepst und draußen wieder irgendjemand bellt. Dann doch lieber Hinterhof und den Hinterkopf auf die Stuhllehne, den Blick nach oben, wo die schwarzen Vögel im Schwarm ihre Kreise ziehen. Wir sind jetzt in dem Alter, da reden wir über Kinder, über die, die schon da sind, die, die vielleicht noch kommen, und die, die es vielleicht niemals geben wird.

In der Seitenlage durstig erweist sich Zeit als eine Chance, die Möglichkeit der Wende auf Kurs zur scheußlichen Balance.“

231 Schnecken hat Opa aus dem Beet gesammelt, das sagt er zumindest, wir vertrauen diesen Angaben je nach Tagesform. Salat gibt es deswegen dieses Jahr keinen, aber müden Mangold und Riesenzucchini. Die Überreste des Holzpferdes, das er letzten Jahr beerdigt hat, indem er es in Brand steckte, fand ich neulich in einer Schublade wieder, ordentlich in ein Schraubglas gefüllt und beschriftet, so ist er. Selbst nach dem Weltuntergang würde er kleine Aufkleber auf die Trümmer kleben, die erzählen, was das mal war und wohin es gehört. Vielleicht noch die Daten der wichtigsten Jahre mit Fineliner in verschiedenen Farben und Serifenschrift. Ein Garten wäre schön.