Lynx
Am ersten Tag des neuen Jahres sitzen wir im Gasthaus des kleinen Ortes direkt neben der Fleischerei. Oben auf dem Vordach der Fleischerei steht ein Plastikschwein, darunter ein Weihnachtsmann, zwei drei Tafeln davor, die Angebote werden nicht weniger. Wir sind die ersten Gäste im Gasthof, an den auch ein kleines Hotel angeschlossen ist. Die Bedienung sieht müde aus, aber ihre Nägel glitzern noch golden. Alle Tische sind gedeckt, die Tischkärtchen sagen, es gibt Sauerbraten. Es läuft der lokale Radiosender, draußen steht die Sonne tief über der Elbe, darüber ein Raureifschimmer. Im Ort auf dem kleinen Platz steht einer von diesen kleinen Kästen, in denen normalerweise sakrale Gegenstände vor dem Wetter geschützt und ausgestellt werden. Hier wartet stattdessen eine kleine, einäugige Plastikkatze hinter Glas. Wir essen hausgemachten Apfelstrudel, der Cappuccino kommt nicht mehr aus der Tüte und der zweite Gastraum füllt sich langsam. Am Tisch in der Mitte sitzt nun ein älteres Paar, beide tragen rote Pullover in der Farbe der Tischdecke und Servietten, sie mit Fönfrisur und einem Blick, als würde sie am liebsten alles und jeden hier kurz und klein schlagen, er vergnügt mit einem Hauch von Hans Guck-in-die-Luft, manchmal pfeift er zur Musik, sie sprechen nicht miteinander. Ihre Beschäftigung besteht aus dem beständigen Herumschauen und dem Wühlen in einem der zwei Rucksäcke. Das andere Paar, das nun in unserem Raum in der Ecke mit zwei Hunden Platz genommen hat, spricht immer erst mit der Bedienung, wenn sie direkt am Tisch steht, obwohl sie sich nur einen Meter weiter an der Kasse aufhält. „Könnten Sie mal kommen?“, fragen Sie jedes Mal, erst dann fragen sie nach der Karte, geben ihre Bestellung auf oder verlangen die Rechnung.
Ich steige gerade die Treppen hinauf, der Schnee ist frisch gefallen, da sehe ich ihn neben mir sitzen. Auf seinem Häuschen im Gehege. Einem Gehege, zu dem man nur mit einem alten Fahrstuhl kommt. Auch am zweiten Tag des Jahres steht in diesem Fahrstuhl ein älterer Herr im Wollpullover mit einer Brille und kassiert. Die Fahrkarte für den Fahrstuhl kauft man in der Fahrerkabine, er sammelt die Münzen mit zittrigen Händen aus der Münzhaltevorrichtung, im Aufzug ist es warm. Der Motor wurde Anfang der 2000er Jahre errichtet. Als wir oben sind, können wir nur den Anfang der Elbe erkennen, der Rest verschwimmt im Schnee. Jedenfalls steige ich diese Treppen hinauf, der Schnee knirscht und dann kotzt sich der erste Luchs meines Lebens die Seele aus dem Leib.
In der kleinen Bäckerei, die uns auch immer die Brötchen in den Briefkasten geworfen hat morgens, sitzt ein Paar mit Kind, beide schon etwas älter, das Kind vielleicht sieben Jahre alt. Die Mutter trinkt ihre dritte heiße Schokolade mit Eierlikör, währenddessen schaut sie mit dem Kind einen Flyer mit Kunstfiguren an. Gemeinsam zählen sie die Hände der aus Stein gemeißelten Frauen. Sobald sie alle Hände gefunden haben, beginnen sie von vorn. Der Vater bestellt sich nach einem Stück Kuchen noch mit Käse überbackene Kroketten, dann fragt die Mutter das Mädchen, ob sie nicht heute mal beim Vater schlafen wolle, sie würde dann ins Kinderbett ziehen. „Nein, das geht nicht“, sagt er, „ich brauche dich zum Einschlafen.“ Die Diskussion ist beendet, eine Lampe des Schwippbogens ist kaputt.
Auf dem Weg zur Autobahn fahren wir an einem Schild vorbei. Wildvogelschutzgebiet. Jemand hat es in Pink groß mit dem Wort “Lüge“ übersprüht.