Die zweiundzwanzigste Woche Jahr

Opi

Wir sitzen im Park an einem der heißen Tage und in der Wiese ist ein Loch, in das immer mal jemand fällt, und wir wissen nicht genau, ob es ein Absichtsloch ist, wir sitzen ja schließlich in sicherer Entfernung auf mehreren Decken, aber wenn einer dieser Spaziergänger, die sehr aufrecht spazieren, wenn einer von denen kurz nicht aufpasst, dann schauen wir alle und manchmal strauchelt jemand und fällt kurz aus der Form, aber dann kommt der eine Mann, der sich hineinlegt, in das Loch, als würde er das jeden Tag tun. Wir können das nicht überprüfen, aber er liegt dann da mit den Unterschenkeln auf dem Rand und den Armen abgelegt wie auf einer Badewanne und die Sonne scheint ihm auf den Kopf und als wir uns das nächste Mal umdrehen, ist er weg.

Rainer Langhans veröffentlicht dieses eine Foto von Jutta Winkelmann auf Instagram und ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin, als ich es sehe, aber ich stocke, das weiß ich noch sehr genau. „Jutta übt Sterben“ steht darunter. Und ich denke erst, das ist ein Witz. Dann google ich. Dann weiß ich, er meint das so. Die deutsche Öffentlichkeit sieht nicht so häufig Menschen sterben, wir legen das ja gern noch weg oder schalten um, oder tun so, als wären die Nachrichten und die Konsequenzen und all das ganze andere Unangenehme, als wäre das doch irgendwie zu verkraften, wenn wir lange genug nicht hinhörten. Jedenfalls sieht man auf dem Foto davor einen jungen Mann in einem Holzhaus sitzen, und auf dem Foto danach Heidi Klum auf einem ZEITmagazin-Cover und mir fällt kein kluger Gedanke ein, aber ich frage mich dann, ob er sie eigentlich gefragt hat, ob er das Foto posten kann, und komme mir sofort lächerlich vor dabei, denn eigentlich spüre ich vor allem, dass es mich rüttelt, dieses Bild, und dass das gesund ist.

Wir sind mit A. und C. und M. auf dem Spielplatz und die Kinder klettern gerade unter die Drehscheibe, als vor dem Zaun ein kleiner Junge steht und darüber motzt, dass wir unsere Decken auf der Drehscheibe ausgebreitet haben und darauf ein kleines Picknick machen, er wütet und schimpft und zielt mit seinem Stock auf uns. Ich denke erst, das ist ein Witz, gleich wird er lachen, aber lachte nicht, und wütete weiter, aber blieb stehen, wir stellten ihm Fragen, sehr freundlich. Warum er so wütend sei. Ob er nicht lieber mit uns picknicken oder zumindest spielen wolle. Nach jeder Tirade kommt er ein paar Schritte näher auf uns zu. Seine Drohungen reichen von Schlägen bis zum Erschießen. „Ich schlitze euch auf“, sagt er und fuchtelt mit seinem Stock und wundere mich über die viele Spucke, die er vor Ärger verliert, und weniger vor Ärger über unsere Decken auf dem defekten Spielgerät, als mehr darüber, dass seine Drohungen nicht funktionieren. Wir laden ihn ein zu Limo und Keksen, er flucht weiter und sagt uns, was nicht alles verboten sei, und da ist mein Mitleid schon babyelefantengroß, er trinkt durstig aus der Limo und schaut sich um und hört nicht auf zu fluchen, jetzt aber leiser, also über uns und dass er uns bestrafen würde, und dann ruft ihn sein Vater zu sich und kommt uns entgegen, ermahnt ihn wegen der Limonade und das Kind ist nun ganz still und sagt kein Wort mehr. Wie fragen noch einmal nach der Lösung mit dem Aufschlitzen, also ob das wirklich seine präferierte Maßnahme sei, jetzt wo wir doch so nett Limo getrunken hätten, und der Vater hängt irgendwie in der Luft zwischen Betroffenheit und einem Ton, den ich nicht deuten konnte, aber das war irgendwas anderes, irgendetwas mit Empörung. Später unter der Rutsche treffe ich den kleinen Jungen wieder, erneut verheddert er sich stotternd in seinen Tiraden von aufgeschlitzten Gesichtern und Körpern, alle Bäume würden in kürzester Zeit auf uns niederstürzen, wenn er das nur wolle und wir würden all unsere Arme und Beine verlieren. Es klingt so albern, aber ich hole eine neue Flasche Limonade und gebe ihm die Hand und sage: Schau, ist noch dran. Und dann ist er wieder still und trinkt und malt mit dem Stock ein Bild in den Sand. Ich hab noch lange an ihn gedacht.

An der Tür von Opa hängt ein Zettel. Dort schreibt er die Dinge auf, die nicht so gut laufen. Das Gehen zum Beispiel. Manchmal vergisst er aus dem Nichts Dinge, deswegen schreibt er sie auf. An die hohe Matratze hat er sich gewöhnt, aber um die Pflanzen im Garten macht er sich Sorgen, die großen und kleinen Zwiebeln, das müsse man richtig machen, sonst werde das nichts. Später beim Essen sitzen wir an den rosa Tischen und er füttert die Spatzen. Eines der Dinge, die er aufschreibt, ist, dass er die Dinge vergisst.