Die elfte Woche Jahr
„This is real life. Not a workshop.“
–
Versuchen, der Verwendung des Begriffes „Angst“ auf die Spur zu kommen. Mein Gefühl sagt, hier wird unbedacht damit um sich geworfen und ein großer Teil von mir möchte nicht glauben, dass die unsolidarische Rechte wirklich eine Angst hat, der andere meint, man müsse jedem eine Angst zugestehen, auch wenn sie bescheuert ist. Oder eine, wie ich sie nicht kenne. Aber alles in mir will nicht mehr lesen, dass wir diese „Ängste“ ernst nehmen müssen, denn immer, wenn man „Angst“ schreibt, klingt es versöhnlich, mitleidig und nach Verständnis, und dagegen wehrt sich etwas in mir. Und selbst, wenn da jemand eine „Angststörung“ hat (so heißt das nämlich, wenn die Angst einen zu Dingen bringt, die nicht gut für einen selbst und andere sind), dann ist das immer noch kein Grund und noch weniger eine Entschuldigung dafür ein menschenverachtendes Arschloch zu sein. Ich will nichts mehr von diesen „Ängsten“ lesen, denn die wahllose Verwendung des Wortes, auch von den Medien, bagatellisiert die von Rechtsextremisten aus diesem Gefühl gezogenen Konsequenzen, und das halte ich für falsch. Man kann sich immer entscheiden.
–
Eine Gruppe Menschen steht in dem kleinen Park neben der Bibliothek auf dem Gehweg, sie haben einen Kasten Bier neben sich auf der Bank stehen, tragen Anzüge und schwarze Kleidung. Die kleine Frau mit den rot gefärbten Haaren hält eine pinkfarbene Nelke in der Hand. Die Hunde rennen über den Rasen. Erst als ich an ihnen vorbeilaufe, sehe ich die roten Augen. An der Ampel weiter hinten warten noch mehr von ihnen. Die Ampelphase ist kurz, sie warten auf dem Mittelstreifen, tragen Nelken, bleiben neben den Jungs vor der Taxischule stehen, die da sitzen und rauchen. Die Kirche ist nicht weit.
–
In der Bahn vom Wedding nach Mitte frage ich die alte Dame mit den vor dem Bauch gefalteten Händen, nachdem sie mich vier Stationen lang angestarrt hat, warum sie den Bärgida-Button an ihrer Mütze trage. „Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagt sie und steigt an der Friedrichstraße aus, von dort kann sie zur Nazi-Demo laufen. Ich hätte es gut gefunden, wenn niemand im Waggon hätte weghören können, die Menschen schauen schon interessiert, als ich nur die Frage stelle. Niemand sagte etwas. Als sie ausgestiegen ist, atmet ein Mann an der Tür hörbar laut aus. Wie erleichtert.
–
„Untersuchungen zur Veränderungsblindheit (den Probanden entgehen erhebliche Veränderungen in ihrem Gesichtsfeld) und Unaufmerksamkeitsblindheit (Versuchspersonen übersehen beim Erfüllen einer Beobachtungsaufgabe ein sehr auffälliges Ereignis) legen nahe, dass um uns herum auf alle Fälle viel geschieht, was wir einfach nicht wahrnehmen. Die Rolle des Lernens in der Wahrnehmung war auch wesentlich zum Verständnis von prediktiv visuellen Schemata.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)
–
Im Radialsystem sprach Orna Donath über das Bereuen von Elternschaft. Und später kam aus dem Publikum die Frage, was das eigentlich mit Schuld zu tun habe, wann Mütter, die bereuen, sich schuldig fühlen. Und ob sie in der Studie von Ornath Äußerungen darüber getätigt hätten, ob ihre Kinder von diesem Schuldgefühl wissen. Ich fragte mich, wie viele Menschen in diesem Raum sich in diesem Moment in sich zurück rollten und ihre eigene Geschichte scannten. Wir kommen aus diesem Dilemma nie heraus. Dass wir immer Kinder sind. Und dass es uns trifft (auch wenn wir gar nicht wollen, dass es uns trifft), wenn wir uns trauen wahrzunehmen, dass unsere Eltern auch nur Menschen sind. Wann entscheidet man sich dafür, dem eigenen Kind gegenüber ehrlich zu sein? Und wer glaubt, das sei man ihm schuldig? Wer lebt lieber mit Lüge? Und wer denkt wirklich, es gäbe immer nur eine Antwort darauf? Wann bereuen Mütter? Und auch: Wann und wie bereuen Väter? Haben Väter einen einfacheren Ausweg, weil die Praxis immer noch besteht, sich durch Alimente freizukaufen? Was passiert mit Männern, die Väter sind und selbstgewählt keinen Kontakt zu ihren Kindern haben, später? Und warum gesteht man Frauen nicht dasselbe zu?
–
M. sagt, als das Licht schon aus ist, die Traumforschung sei sich momentan einig, dass Träume vor allem als Schutz vor dem eigenen Empfinden dienen. Der Traum sei die Übersetzung der sich in dem Moment verarbeitenden Erlebnisse. Übersetzend vor allem, um Schlaf überhaupt möglich zu machen und mit ihm Erholung. Träume katalysieren, was am Tag geschieht und vor allem das, was es auslöst in uns. Sie bilden eine Barriere zwischen dem, was man vielleicht nicht aushalten würde zu spüren, und dem, was geht. Wenn wir uns an Träume nicht erinnern können, ist das okay. Und wenn doch, dann ist das noch immer nicht alles.