Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: März, 2016

Die elfte Woche Jahr

Window

„This is real life. Not a workshop.“

Versuchen, der Verwendung des Begriffes „Angst“ auf die Spur zu kommen. Mein Gefühl sagt, hier wird unbedacht damit um sich geworfen und ein großer Teil von mir möchte nicht glauben, dass die unsolidarische Rechte wirklich eine Angst hat, der andere meint, man müsse jedem eine Angst zugestehen, auch wenn sie bescheuert ist. Oder eine, wie ich sie nicht kenne. Aber alles in mir will nicht mehr lesen, dass wir diese „Ängste“ ernst nehmen müssen, denn immer, wenn man „Angst“ schreibt, klingt es versöhnlich, mitleidig und nach Verständnis, und dagegen wehrt sich etwas in mir. Und selbst, wenn da jemand eine „Angststörung“ hat (so heißt das nämlich, wenn die Angst einen zu Dingen bringt, die nicht gut für einen selbst und andere sind), dann ist das immer noch kein Grund und noch weniger eine Entschuldigung dafür ein menschenverachtendes Arschloch zu sein. Ich will nichts mehr von diesen „Ängsten“ lesen, denn die wahllose Verwendung des Wortes, auch von den Medien, bagatellisiert die von Rechtsextremisten aus diesem Gefühl gezogenen Konsequenzen, und das halte ich für falsch. Man kann sich immer entscheiden.

Eine Gruppe Menschen steht in dem kleinen Park neben der Bibliothek auf dem Gehweg, sie haben einen Kasten Bier neben sich auf der Bank stehen, tragen Anzüge und schwarze Kleidung. Die kleine Frau mit den rot gefärbten Haaren hält eine pinkfarbene Nelke in der Hand. Die Hunde rennen über den Rasen. Erst als ich an ihnen vorbeilaufe, sehe ich die roten Augen. An der Ampel weiter hinten warten noch mehr von ihnen. Die Ampelphase ist kurz, sie warten auf dem Mittelstreifen, tragen Nelken, bleiben neben den Jungs vor der Taxischule stehen, die da sitzen und rauchen. Die Kirche ist nicht weit.

„There’s nothing particularly new about trying to avoid getting hurt. It’s just that my generation has turned this avoidance into a science. Perfecting the separation of the physical from the emotional. (…) being casual is cooler than intimacy or vulnerability, so we think. (…) today having the last word is the ultimate weakness.“

In der Bahn vom Wedding nach Mitte frage ich die alte Dame mit den vor dem Bauch gefalteten Händen, nachdem sie mich vier Stationen lang angestarrt hat, warum sie den Bärgida-Button an ihrer Mütze trage. „Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagt sie und steigt an der Friedrichstraße aus, von dort kann sie zur Nazi-Demo laufen. Ich hätte es gut gefunden, wenn niemand im Waggon hätte weghören können, die Menschen schauen schon interessiert, als ich nur die Frage stelle. Niemand sagte etwas. Als sie ausgestiegen ist, atmet ein Mann an der Tür hörbar laut aus. Wie erleichtert.

Untersuchungen zur Veränderungsblindheit (den Probanden entgehen erhebliche Veränderungen in ihrem Gesichtsfeld) und Unaufmerksamkeitsblindheit (Versuchspersonen übersehen beim Erfüllen einer Beobachtungsaufgabe ein sehr auffälliges Ereignis) legen nahe, dass um uns herum auf alle Fälle viel geschieht, was wir einfach nicht wahrnehmen. Die Rolle des Lernens in der Wahrnehmung war auch wesentlich zum Verständnis von prediktiv visuellen Schemata.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)

Im Radialsystem sprach Orna Donath über das Bereuen von Elternschaft. Und später kam aus dem Publikum die Frage, was das eigentlich mit Schuld zu tun habe, wann Mütter, die bereuen, sich schuldig fühlen. Und ob sie in der Studie von Ornath Äußerungen darüber getätigt hätten, ob ihre Kinder von diesem Schuldgefühl wissen. Ich fragte mich, wie viele Menschen in diesem Raum sich in diesem Moment in sich zurück rollten und ihre eigene Geschichte scannten. Wir kommen aus diesem Dilemma nie heraus. Dass wir immer Kinder sind. Und dass es uns trifft (auch wenn wir gar nicht wollen, dass es uns trifft), wenn wir uns trauen wahrzunehmen, dass unsere Eltern auch nur Menschen sind. Wann entscheidet man sich dafür, dem eigenen Kind gegenüber ehrlich zu sein? Und wer glaubt, das sei man ihm schuldig? Wer lebt lieber mit Lüge? Und wer denkt wirklich, es gäbe immer nur eine Antwort darauf? Wann bereuen Mütter? Und auch: Wann und wie bereuen Väter? Haben Väter einen einfacheren Ausweg, weil die Praxis immer noch besteht, sich durch Alimente freizukaufen? Was passiert mit Männern, die Väter sind und selbstgewählt keinen Kontakt zu ihren Kindern haben, später? Und warum gesteht man Frauen nicht dasselbe zu?

M. sagt, als das Licht schon aus ist, die Traumforschung sei sich momentan einig, dass Träume vor allem als Schutz vor dem eigenen Empfinden dienen. Der Traum sei die Übersetzung der sich in dem Moment verarbeitenden Erlebnisse. Übersetzend vor allem, um Schlaf überhaupt möglich zu machen und mit ihm Erholung. Träume katalysieren, was am Tag geschieht und vor allem das, was es auslöst in uns. Sie bilden eine Barriere zwischen dem, was man vielleicht nicht aushalten würde zu spüren, und dem, was geht. Wenn wir uns an Träume nicht erinnern können, ist das okay. Und wenn doch, dann ist das noch immer nicht alles.

Die zehnte Woche Jahr

Blue

Jeden Tag stehen Geflüchtete vor dem Hotel, in kleinen Gruppen, mit scheuen Augen. Nur selten steht jemand allein davor. Manchmal sitzt jemand unter dem kleinen Dach auf der Treppe und telefoniert leise, oder tippt etwas ins Mobiltelefon. Das ist aber selten. Die meisten haben die Hände in den Taschen irgendeiner Jacke, die Arme an den Körper gepresst, sich schüchtern umschauend. Nur die kleinsten Kinder laufen manchmal rückwärts, breit lachend, bis gegen andere Beine oder einen Poller. Man kann den anderen Passanten ansehen, dass sie nicht wissen, wie sie schauen sollen. Dass ihnen etwas widerfährt, wenn sie die kleinen Gruppen Menschen von Weitem sehen, die Gedanken sieht man ihnen nicht an, aber dass sich etwas in ihrem Körper verändert, weil sie überall von Menschen lesen, die jetzt kommen, aber selten welche sehen. Da sind sie.

Manchmal geht das Handy aus, während ein Podcast oder ein Song läuft. Dann stoppt es einfach für fünfzehn bis dreißig Sekunden. Als wolle es einem Platz zum Denken lassen. Manchmal bin ich enttäuscht, wenn es wieder angeht.

Ich komme später nach Hause, das dunkle Blau ist gerade erst zu einem dunklen Grau geworden, in dem noch ein Rest hängt, alle Läden bis auf den Späti haben geschlossen, das Alibi-Casino auch. Am Anfang der Straße liegt ein Briefumschlag zwei schwarzen Punkten auf der Rückseite. Erst beachte ich ihn nicht wirklich, doch ein paar Meter weiter liegt noch einer, und weiter vorn unter der ersten Laterne der Straße liegen sechs. Alle aufgerissen, alle leer, die Punkte wurden mit Filzstift auf die Rückseite gemalt, alle liegen verteilt, ich erkenne weitere hellgraue Rechtecke am Boden die Straße hinunter. Irgendjemand wollte etwas sagen.

Es ist gegen acht, als ich an der Straßenecke warte, von der aus man direkt in die orange gestrichene Küche schauen kann. Die Küchenzeile ist aus hellbraunem Holzimitat, an der Wand hängt eine weiße Uhr, die stehen geblieben sein muss, auf dem Fensterbrett steht eine dieser gummiartigen dunkelgrünen Zimmerpflanzen mit den lacken Blättern, auf die ich als Kind immer die Murmeln gesetzt und runterrollen lassen habe. In der Küche steht eine ältere Frau in einem beigen Pullover, blonde, kinnlange Locken. Sie räumt herum, vielleicht schneidet sie etwas oder wäscht ab, jedenfalls schaut sie angestrengt auf das, was da vor ihr geschieht und was ich nicht erkennen kann, ihre Schultern bewegen sich, manchmal schaut sie flüchtig durch den Raum, die Gardinen verdecken hin und wieder ihr Gesicht, sie schwitzt im Nacken. Dann greift sie nach einem Handtuch, fährt sich damit über den Hals, trocknet sich die Hände, zieht sich die Haare von ihrem Kopf. Mit dem Handtuch wischt sie sich über die Kopfhaut, die Perücke legt sie beiseite. Dann macht sie weiter.

Am Sonntag begegne ich einem Dackel im Regenmantel. Man kann die Feuchte riechen, ein sehr kleiner Wald.

Ein Paar macht seine Hochzeitsfotos in der Abendsonne auf dem kleinen Stück Rasen am Halleschen Tor. Vor der Amerikanischen Gedenkbibliothek steht ein Mann in Jeans vor dem kleinen Baum und macht Yoga, hinter ihm der große Lesesaal. Alle warten, der Winter geht.

Sie haben das Haus gegenüber der rot gestrichenen Polizeistelle abgerissen. Ich kannte es, seit frühester Kindheit, vor allem den kleinen Spielzeugladen. Er hatte ein kleines Schaufenster und alles war über und über mit Zeug vollgestopft, sodass es dunkel wurde, sobald man den Laden betrat, der kleine Raum war bis zur Decke hin zugestellt, Kuscheltiere, Puppen, Autos und Schreibwaren. Ich liebte diesen Ort, obwohl ich selten etwas kaufen konnte, man trat durch die Tür und alles war möglich, man atmete den Duft von Plastik und Farbe, Holz und Süßigkeiten, Staub und Schweiß, die Möglichkeit der Auswahl und der Entscheidung, das Ansehen des Überflusses genügte mir schon, ich saugte ihn ein und hielt die Luft an, solange es ging.

Es gibt diese zwei älteren Leute, die jeden Tag in ihrem immer leeren Burgerladen sitzen. Als der Laden neu war, standen sie gemeinsam am Tresen in der hinteren Ecke. Nach und nach rückten sie weiter nach vorn. Jetzt stellen sie das Schild nach draußen und sitzen direkt hinter der Scheibe daneben. Mit wild gemusterten Tassen vor sich, immer schweigend, die Arme verschränkt, die Haut leicht grau, ich sehe sie nie reden. Sie sitzen so nah an der Scheibe, dass man sich manchmal erschreckt, wenn man vorbeigeht.

Vor dem Fußballplatz stehen ein Korbsessel, eine kleine Kommode, zwei große Zimmerpflanzen und einige Platten in einem Pappkarton herum. Alle sind blau angemalt. Nicht nur ein bisschen blau, sondern deckend mattblau, sodass man nichts mehr von der eigentlichen Farbe der Gegenstände erkennt, an einigen Stellen platzt das Blau bereits ab und liegt in kleinen Schuppen auf dem Pflaster. Dabn di da da.

Die neunte Woche Jahr

Tulpen

Nach dem Theater drückt mir die Mutter ein kleines Geschenk in die Hand, und lacht: „Wenn du es doof findest, verstehe ich das. Es war nur ein Gag.“ Ich zupfe das Serviettenpapier ab, zum Vorschein kommt ein Jüngling aus brauner Schokolade, mit einer Badehose aus weißer Schokolade, die mit Herzen aus roter Schokolade verziert ist. Das sind die Geschenke, die man mit über 30 bekommt von der Familie. Und Vitaminpräparate. Beides esse ich zu Hause auf.

Quallen sind organisiertes Wasser, lerne ich im Aquarium von einem Schild. Wir beobachten eine Ameisenfarm. Manchmal klettert eine Ameise durch den Lüftungsschacht nach draußen in den Raum, wo nur Sägespäne sind und noch zwei drei andere Ausbrecher. Die echte Welt wartet hinter noch dickerem Glas. Man muss ja nicht immer vom großen Glück sprechen, manchmal genügt das kleine vollkommen und für immer. Die Skalen sind für jeden anders, auch das lerne ich, vielerlei Maß.

„For the first time the blending of two shades is colour of the year“. Das könnte man jetzt auch wieder auf alles drauflegen, auf die Welt und den Journalismus und die Krisen und die Wünsche und ach. Aber damit fangen wir gar nicht erst an. „Your aura is really fantastic, it’s this beautiful purple color“, schrie diese eine Frau damals in „Almost Famous“.

Manche Tage haben einen Knick. Nicht einmal einen Riss, nur eine äußerst sichtbare Delle. Als habe man sich zu unvorsichtig an einen Gedanken gelehnt, das muss ja nicht einmal von Dauer gewesen sein.

Wie gern ich die „Was schön war“-Texte von Anke Gröner lese. Es gehört zu den guten Dingen, habe ich auch festgestellt, einen Zettel dabei zu haben und abends zu notieren, was schön war. Nicht weil man eine Liste braucht, das ist Quatsch, aber so ein Zettel und ein Vorhaben markieren ja gerne mal einen Moment, den man sich sonst nicht nehmen würde.

An der Friedrichstraße trommelt an dem einen Abend dieser Mann auf dem Mülleimer mit zwei Stücken, das macht er mittags und dann später am Abend steht er immer noch da, in derselben Haltung, ein wenig vornüber gebeugt und mit geschlossenen Augen, und alle anderen, die vorbeilaufen, können nicht anders als zu grinsen, weil er das so gut macht und vom ganzen, dreckigen Rest nichts mehr mitzubekommen scheint. Später im Bahnhof funktioniert „No Care“ von Daughter ganz wundervoll als Abstandhalter und Scheuklappe. Sich bewegen ohne Geräusch.

„We sometimes hope against the evidence.“ – Aus Just One Last Swirl Around The Bowl

Eine halbe Stunde bei einer Podiumsdiskussion zusehen, vier Männer auf der Bühne, zwei Frauen. Die erste Frage des Moderators richtet sich an die anwesende stellvertretende Chefredakteurin: „Sie als Frau…“ – es folgt eine sanftmütig verhornte Frage à la „Wie haben Sie das denn geschafft, sagen Sie mal, hatten Sie Glück?“. Ich erwarte Empörung, vielleicht ein lautes Lachen, eine Rückgabe dieser dusseligen Frage, eine spitze Bemerkung, doch alles, was folgt, ist ein leises Lächeln, eine völlig defensive Haltung, die letztlich in der Antwort „Ja, ich hatte auch Glück“ mündet. Die zweite Frau auf dem Podium, Geschäftsführerin, wird danach ähnliches gefragt ““ und auch sie macht sich klein, duckt sich weg und vor allem – sie verteidigt sich nicht. Wieso antwortet keine der beiden mit „Das war kein Glück, ich habe mir das erarbeitet“?

Bei der Buchpremiere von Benedict Wells spielt seine musikalische Begleitung eine Coverversion von Elliott Smiths „Between the bars“ und ich bin wieder achtzehn und die Hosen zu weit und die Augen ganz groß und die Gänsehaut irgendwo in der Kniekehle.

Nach Oh Wonder im Postbahnhof und erneuter Entzückung in der Kälte an der Eastside Gallery entlang laufen, durch eine große Menge Sarah-Connor-Fans, die sich beim Warten an der Ampel die Videos vom Konzert ansehen. Vor der Mauer steht jetzt ein Bauzaun, der da lustlos entlang drapiert wurde, so macht Berlin das häufiger, vorgeben sich zu kümmern, aber worum genau hat es vergessen und auch, wie man das so richtig macht. Aber Hauptsache leuchten. Und das neue Wohnhaus am Ufer steht genau so, dass man den Fernsehturm von der Brücke nur noch sehen kann, wenn man sich Mühe gibt und an der richtigen Stelle steht, man muss die Magie der Aussicht jetzt suchen, alles wird weniger offensichtlich und zugestellt. Falsch verschriebene Beschäftigungstherapie, oder Fahrlässigkeit.

Brian Frankes „Im Grunde sind wir untröstlich“ wiedergefunden. Mich lange nicht mehr so sehr über eine Buchseite gefreut wie über die fünfte von hinten.