Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Februar, 2016

Die achte Woche Jahr

Schnee

Wenn A. von Kleidung redet, wird Kleidung etwas anderes. Kleidung ist dann kein Stoff mehr, den man sich umwirft, sondern aufgeladen, in jeder Falte eine Haltung. Und immer wenn A. von Kleidung spricht, will man sich sofort ausziehen, weil es sonst zu viel zu entscheiden gäbe, oder einfach in ein dunkelblaues Tuch wickeln, blickdicht, aber weich. Eine Art Stoff, von der sogar ich sagen würde: „Schau, wie er vorne fällt.“

Matt Damon dabei zugesehen, wie er seine Rakete mit Gaffa und Fallschirmfolienstoff klebt und in den Weltraum geschossen wird. Klebeband als Rettung allen Lebens.

An diesen Tagen mit dem kalten Nieselregen, der nur zwischen die Haarwurzeln und nicht direkt darauf fällt, fehlt mir das Meer, auch wenn ich schon mitten im Gefühl diesen Blick bekomme, der genervt von mir selbst irgendwas mit Plattitüden flüstert, aber man bekommt es ja doch nicht aus sich heraus, und das Am-Ufer-Stehen nutzt sich einfach nicht ab, das muss ja auch irgendwas haben, wenn ständig alle zu diesem Bild als Erlösermotiv kommen, seltsam eigentlich, wie viel Schnittmenge das Meer übrig lässt, für jeden ein Fitzelchen. Auf einer Veranstaltung die Oculus auf dem Kopf gehabt und durch eine Stadt gelaufen, in der das Babylon-Kino direkt neben dem Brandenburger Tor stand. Als ich versuche, nach links in eine Tiefgarage zu gehen, stehe ich plötzlich mit den Füßen in der Brandung.

Morgens im Bus sehe ich, wie draußen vor dem Supermarkt ein vermutlich obdachloser Mann steht, grauschwarze Haare bis zu den Schultern, zerzaust, die Kleidung hängt in Flächen und Fetzen von ihm herab, um die Schultern trägt er einen Schlafsack, hier und da kann man seine nackte Haut sehen, sein Gesicht aber nicht, er hält den Kopf gesenkt, es ist morgens viertel nach acht, er steht unbewegt für mehrere Minuten einfach so in der Mitte des Bürgersteigs wie eine Statue, ein Monument.

Einfach fragen ist etwas Gutes.

Dimitrij Schaad spielt den Pinneberg von Fallada im Gorki und er macht das gut, aber am Ende, da lässt er kurz all die zwanzig Jackets von seinen Schultern fallen, am Ende als nach dem Applaus die ersten Zuschauer schon den Saal verlassen, da stellt er sich noch einmal mit zitternden Händen ganz nach vorn und liest vor, und ich frage mich, ob er vorliest, weil es eine mittelspontane Entscheidung war oder ob er vorliest, damit er sich nicht vertut und die Worte klar bleiben, jedenfalls liest er diesen kurzen Text vor, einen Ruf nach Empörung über die Zustände am und im Lageso in Berlin, einen Wunsch nach Unterstützung, vor allem danach, dass die Menschen dort im Saal ihre Stimme erheben und den Umgang mit Geflüchteten nicht einfach hinnehmen, er steht da und schwitzt und zittert und schaut nicht auf, während er liest, erst danach, und diese Bitte ist kein P.S. unter einem Brief, keine Zugabe, kein Anhang, sie ist die Überschrift.

The blue hour

Tiergarten

Arguing with you, must be love, my love. Recognizing your rage, recognizing the deep deep blue in your anger. You can wear red, it’s your colour, but you don’t fight in it. You scream in waves with whites on top. And i enjoy seeing you attached to what you think is right, or wrong, I like you visiting. And this is me listening, keeping every single word of yours, thinking about them for days, stretching them, and stretching mine, til they find each other, til they meet. We make it work. By waiting. By thinking. By daring. That’s what I love the most, sitting next to you in the car, driving to the bakery miles away, having coffee with you, breathing in, making it work, breathing out.

Die siebte Woche Jahr

Oranienburger Tor

Auf dem Heimweg an das Wartezimmer in Wedding gedacht, in dem die Zeitschrift „Sehnsucht Deutschland“ auf einem kleinen, weißen IKEA-Tisch lag, während auf dem Bildschirm über der Garderobe Tierbabyfernsehen lief. Und dann ist mir Paris auch wieder eingefallen, und wie die Luft war, als wir aus dem Restaurant kamen nach diesen paar Gläsern Wein, ich mochte die Strähnigkeit der Stadt, die vor allem nachts zu sehen ist, denn tagsüber liegt niemand auf den Rasenflächen, treten sie nicht einmal über den Rand. Dass es hier kaum leere Ohrläppchen gibt, hab ich noch gedacht, und wie schön es ist, wenn jemand nachschenkt, aber nicht ohne zu fragen, sondern nach einem Blick, der als Zeichen genügt und nicht zu einer Berührung wird.

Die Notiz wiedergefunden, die ich nach dem Stück von Sibylle Berg schrieb, zwei Zitate: „Ein Kind sollte mit zwei Elternteilen zusammen leben, damit es diese furchtbare Angst verliert, allein zu sein, wenn einer kaputt geht“ (und innerlich kurz abgeschweift, dass zusammen leben ja nicht zusammen wohnen heißen muss und trotzdem nicht weniger wert ist), „ich gönne mir noch zwei Minuten eine kleine Angst“ (zum Mitnehmen, bitte).

Dem Wetter danken, dass es einen der zwei freien Tage keinen Aufstand macht, sondern mich in Ruhe einfach wohnen lässt. Gegenstände benutzen, nicht nur ansehen.

I’ve seen better, I’ve seen worse. I missed the sun today.

An der Friedrichstraße in die S-Bahn steigen. Im ersten Moment denken: „Ach, das da hinten sind nur fünf laute Fußballfans“, an der nächsten Station sicher wissen: „Das sind fünf Rassisten“. Dort steigen sie schon wieder aus. Wut, Gänsehaut, Ekel, Hass und Angst, alles auf einmal fühlen, die Blicke der anderen im Zug suchen. Angst und Gleichgültigkeit in den Augen finden.

Wenn man das kleine Fischrestaurant unter der Brücke betritt, wird man verschluckt von Netzen und Zetteln und Fotos und dem Geruch. Auf jedem Tisch liegt eine Glasplatte, darunter Nachrichten der Gäste und Familien, der Stammkundschaft und Touristen. Jeder Bilderrahmen wurde sorgsam beschriftet. Es gibt Zitrone und Fladenbrot zum Fisch. Das einzige Dessert der Karte ist ein fest gepresstes Pulver, das im Mund ganz samtig weich wird, viel zu süß, aber die Konsistenz habe ich so noch nie erlebt.

Der Dreijährige und ich sitzen in der Straßenbahn, es ist schon dunkel. Der Zug schwingt sich in eine Kurve und der Dreijährige lacht aus vollem Herzen: „Schweeeerkraaaaft!“

Hörempfehlung: Das Gespräch zwischen Anne Wizorek und dem Fotojournalisten Martin Gommel, der reist, um Flüchtenden zu helfen ““ und vor allem um mit ihnen zu sprechen.

Die sechste Woche Jahr

Monsters Ronson

Stadtteile wechseln wie ein Transportmittel. Der andere ist plötzlich so weit weg, alles sieht anders aus, funktioniert anders, riecht anders, jeder nimmt einen neuen Bus nach Hause. Menschen, die nachts über den Ku’damm stolpern, alle für sich zwischen den hell erleuchteten Schaufenstern, in denen die Puppen mit den Plastikhaaren stehen in ihrer eingefrorenen Zerzausung.

In einem Chat gemeinsam überlegt, wo eigentlich die Kollegialität im Internet wohnt und wie viel davon wir brauchen, bräuchten dafür, dass es friedlicher wird, nicht diskussionsfreier, aber so, dass man nicht sofort zusammenzuckt, so dass man nicht im Vorfeld schon Beschimpfungen und Hass einkalkulieren muss, sich nicht von anderen stärken lassen muss, um alles auszuhalten, nicht weggehen muss, um sich auszutauschen. Ausloten, wer bereit ist (acht) zu geben, wer nicht in der Lage und wer einfach zu faul.

Es gibt sie noch immer, die Nächte die sind wie in einen Berlinfilm hineingeschrieben, nur ohne die cheesy Dialoge. Mit den Menschen und den Drinks und den Lichtern und dem lauten Singen, dem Laufen nach Hause, wenn die Straßen sich langsam leeren, man das Licht des nächsten Tages schon erahnen kann, einem auch im Februar nicht kalt ist und vor allem immer so, dass die Nacht länger ist als eine Nacht. Sie ragt unauffällig bis in die nächste hinein.

Sowieso: Konstellationen ausloten. Mit dem Kopf im Nacken, mit dem Blick zurück, mit Bedachtsamkeit nach vorn. Welches Patchwork funktioniert? Wie rücken Menschen nebeneinander, um so zu bleiben oder zumindest sich nicht sofort wieder zu verlieren? Wie viele Eltern kann man eigentlich haben? Und wie viele will man? Wer gehört noch dazu? Kann man noch einmal neu anfangen und wann ist es zu spät? Wie adoptieren wir Freunde?

Durch die Weserstraße rannten gerade schwarz vermummte Menschen und brüllten irgendwas, als D. und mir Karate wieder einfiel. Die „Unsolved“ ist und bleibt diese eine Platte, die immer noch viel mehr Literatur als Musik ist, diese eine Geschichte, derer ich nicht müde werde, sie wird als Geschenk immer gültig sein. Etwas, das man von Wohnung zu Wohnung mitnimmt, ohne es auszupacken, man kennt diese Kiste, man weiß genau, was darin sich an welcher Stelle befindet, manchmal schüttelt man sie sanft, um sich zu vergewissern, aber man muss sie nicht mehr öffnen, das Geräusch ist immer und immer wieder dasselbe, aber ohne die Kiste wäre alles anders.

In Berlin hört man selten Wasser, obwohl welches da ist. Wenn man es doch wahrnimmt, bügelt einem das Geräusch am Morgen die Stirn.

„Kleine Lichter“ hatte ich damals gelesen in diesem Hotel in Taiphe, als die Erde bebte, ich hatte es mitgenommen, weil es so praktisch war, so klein, ohne große Erwartungen an die Lektüre, und dann flogen mir doch so viele Sätze davon durch den Kopf, als ich mich durch die Stadt schieben ließ, ohne Smartphone, nur mit Stadtplan, denn sie erzählt im Buch ja auch immer von ihren Reisen. Und ich weiß noch, dass mich immer nicht entscheiden konnte, ob ich mich auf den Kitsch zwischen den Seiten, diese blumig beschriebene und so geradeheraus erzählte Liebesgeschichte wirklich einlassen wollte (keine Scheu vor keinem Gefühl), dieses Buch war mir suspekt, weil die Beschreibungen nicht schwankten. Dieses opulente Bild von einem großen Gefühl trug ich die ganze Zeit mit mir herum, berührt, ergriffen, weil die besten Bücher ja sind, die dich von innen heraus in verschiedene Richtungen drängen und kleine Beulen hinterlassen. Direkt danach trat ich in kleinen Sicherheitsabstand zu dieser Geschichte (und halte ihn immer noch), weil sie so eng verbunden ist mit der hohen Luftfeuchtigkeit und diesem großen Gefühl Anfang 20, das so nicht mehr wiederkam. Manchmal lässt man ja Platz zwischen sich und den Dingen vor allem aus Respekt. „Kein großer Bahnhof nötig.“

Mit dem Großvater Schnitzel essen. Er verzehrt den Kartoffelsalat zuerst, dann das Kraut. Vom großen Schnitzel schneidet er die Ränder ab, sodass ein akurates Rechteck zurückbleibt. Anschließend holt er eine Brotdose aus seiner Tasche und packt das begradigte Schnitzel ein für später. „Ich bin doch nicht blöd.“

In diesem Laden auf der Potsdamer Straße stehen ein rotes Plüschsofa, ein Klavier und so große Tische, dass Menschen ohne Probleme miteinander daran sitzen können, ohne einander auf die Nerven zu gehen. Die Fensterfronten sind so riesig, dass man sie gar nicht mehr bemerkt. Neben uns direkt am Fenster sitzt ein älterer Herr, er kommt spät, vielleicht gegen Mitternacht. Den Rucksack legt er auf dem zweiten Stuhl ab, er setzt sich, blättert nervös den Kulturteil des Tagesspiegels durch. Man kennt ihn hier, dem Barkeeper wirft er mit Blicken eine Begrüßung zu, manchmal spricht er nicht hörbar mit sich selbst, schaut nach draußen. Er trinkt ein Glas Weißwein, das erste sehr schnell aus. Dem zweiten dann gibt er etwas mehr Zeit, während er in Druckschrift Notizen in das kleine grüne Buch kritzelt, das er mit einem Schnipsgummi verschließt. Kurz bevor ich mich zurücklehne, treffen sich unsere Blicke, ich lächle, er weiß nicht genau, er lächelt dann doch. Am Ende sagt er mir auf Wiedersehen, als ich mich noch einmal umdrehe, bevor wir den Laden verlassen. Dann trinkt er aus.

Die fünfte Woche Jahr

Park am Gleisdreieck

Wir sprachen über Niederlagen und ich blieb wieder am Wort hängen, und auch das finde ich nach längerer Betrachtung besser als davor, es heißt ja nicht Niederschleuderung, Niederwurf, Niedersturz, es heißt Niederlage und das klingt für einen Moment behutsam, würde man sich ihr ergeben. Weil das für den Moment die angemessene Körperhaltung ist, ob Bauch- oder Rückenlage ist jedem selbst überlassen, doch nur selten finden jene, die es aushalten müssen, dies als angemessen. Sich zusammenreißen ist ja auch so eine Schöpfung. Wenn man nicht aufhört damit, besteht man irgendwann nur noch aus einem Haufen Schnipsel, den man selbst oder eine befugte Person nach Abschluss des Vorgangs wieder zusammensetzen muss.

Am Tag vor dem Februar den Weihnachtsbaum im Topf nach unten geschleppt und auf Barmherziges gehofft, schon nach einer Stunde hatte ihn jemand mitgenommen.

Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, an Sonntagen zu laufen, solange zu laufen, bis ich wirklich nicht mehr kann. Nicht das faule „Ich kann nicht mehr“, obwohl es eigentlich noch geht. Denn wenn man mal an einem Sonntag aus Versehen so lange gelaufen ist, bis man nicht mehr konnte, dann will man wirklich noch weiter, aber es geht nicht mehr, es geht dann wirklich nicht und dann tippt man im Sitzen eine Notiz ins Handy mit Orten, an denen keine Zäune sind und keine Wände und wenig Schilder, denn da will man dann hin und es ist eigentlich egal, wann genau, Hauptsache bald.

Ein jedes Ding hat ein Muster oder einen Rhythmus, die sich bei genauem Hinsehen und Hinhören unterscheiden. Doch ob diese Muster auch außerhalb des menschlichen Geistes existieren, ist eine ungelöste Frage. Du und ich, wir haben nicht die gleichen Muster gesehen.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)

Wie man in jeder Beziehung auch immer wieder bereit sein muss, Schaden zu beheben. Es bringt häufig wenig, wenn man möchte, dass es weitergeht, alles vor die Tür zu stellen. Man muss zumindest eine Pfütze Willen in sich finden, im Callcenter anzurufen, auch wenn die Wartemelodie scheiße ist. Oder sich das Tutorial auf YouTube anzusehen. Adblocker sind selten Scheidungsgrund.

Vor der C/O lag ein Mann, er hatte die Augen geschlossen, seine beiden Bekannten sprachen mit ihm, schoben immer mal einen Fuß gegen seinen Bauch, gingen dann und ließen ihn liegen, lachten dabei. Wir standen da, ich hielt das Telefon in der Manteltasche umklammert und fragte mich, ob er atmet. Wir schauten kurz weg, dann wieder hin, er atmete, man sortierte sich, hoffte auf andere, leichter Regen. Eine Frau neben uns fühlte daraufhin seinen Puls, rief einen Krankenwagen. Was nimmt man eigentlich zusammen, wenn nicht seinen Mut?

Wir malten ein Haus an die Tapete und das dauert eine Stunde, wenn man noch nie zuvor ein Haus an eine Tapete in einem neuen Haus gemalt hat. Das bedeutet ja immer was. Nach getaner Arbeit machte der kranke Dinosaurier das Licht aus, versteckte sich im Zelt und trommelte.