Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Mai, 2015

Schwebeteilchen

Morgen

Es ist selten, dass man in der kurzen Zeit aufwacht, in der hier keine Autos fahren, es gibt diese halbe Stunde vielleicht, die zwischen den Tagen liegt, kalendarisch schon einzuordnen im nächsten ist diese halbe Stunde doch aber erst dieser Rinnstein, der die beiden Tage trennt, obwohl der neue, wenn man es genau nimmt, schon ein paar Stunden alt ist. Es kommt selten vor, dass man den eigenen Tag in dieser vielleicht halben Stunde beginnt, dass man genau dann aufsteht, wenn das Alte verfliegt und die Stadt steht, aber die Tiere nicht, wenn die Fenster ruhen, die Luft sich aber vor ihren Augen umzieht, und ich vermute, dass eigentlich das, was als Morgenstunden bezeichnet wird, eigentlich nur dreißig Minuten sind. Diese kurze Zeit hat der Nebel, um sichtbar zu werden, in diesen dreißig Minuten ist nichts vorhanden außer ein Schnarchen hier und da, manchmal taumeln noch ein paar Ausgespuckte, aber selbst die scheinen sich in dieser halben Stunde hinzusetzen und zu warten, es gibt keine Flugzeuge, keine Fahrräder, nur den Fuchs, der nach den Kaninchen in den Büschen neben der Bibliothek schaut. Es ist selten, dass man spürt, wie klar der Morgen eigentlich ist, er hat einen Anfang und ein Ende, alles, was darüber hinausgeht, hat schon nichts mehr mit ihm zu tun, es hat sich noch niemand die Mühe gemacht, dafür einen angemessenen Namen zu finden, aber der Morgen wohnt in dieser halben Stunde, da bin ich mir sicher, den Rest der Zeit spaziert er im Garten umher und bekommt nasse Socken.

Mithilfe von Luft

Markt

In der Stapferstraße wohnt eine Frau, die sehr gut pfeifen kann. Irgendwo hat sie ihr Fenster offen gelassen und pfeift, und keine Tonfolgen, sondern richtige Melodien, manchmal singt sie dazwischen oder summt, und dann pfeift sie weiter und immer wenn sie aufhört, (denn sie pfeift eher morgens) weiß man, jetzt muss man anfangen, irgendetwas zu tun, jetzt ist die Zeit vorbei, in der man liegt und horcht und noch nicht richtig begonnen hat, also mit nichts, jetzt muss begonnen werden und wieder angefangen, jetzt hat sie aufgehört zu pfeifen und den Staffelstab abgegeben, man weiß nicht, an wen, vermutlich an jeden.

bārāṇḍā

Veranda

Wenn die Jahreszeit es zulässt, kann man sich langsam wieder an die Luft gewöhnen, daran, draußen Dinge zu tun, die man nun viele Monate drinnen tat, man kann, wenn es genug Raum gibt, um draußen die Beine lang zu machen und man nirgendwo anstößt, beinahe wie ein Raupentier die Fühler und Armhaare ausstrecken und sich befreunden mit den Molekülen, alle Körperseiten können sich nach und nach der Sonne entgegen recken und den Wolken und dem Baum, den man haben könnte (und wenn man ihn hätte, würde man sagen: glücklicherweise). Nach zwei Stunden lesen im Freien, lesen vor dem eigenen Wohnzimmer, nicht lesen auf einem Ausflug, sondern dort wo man sich zuhause fühlt oder zumindest temporär zuhause ist, wenn man dort zwei Stunden liest und nicht bei jedem Wind sofort wieder aufs Sofa umzieht, sondern kurz wartet und wirklich erst beim richtigen Regen wieder ins überdachte Wohnzimmer geht, um von dort aus dem Wetter zuzusehen, nach zwei Stunden lesen dort, fängt der Körper an, friedlich eine Sommerkonsistenz zu finden, sich einzurichten im neuen Luftdruck, nach drei Stunden lacht man beinahe schon über die Haarsträhnen, die etwas hysterisch ständig hin und her fliegen nur wegen ein bisschen Wind, nach vier Stunden spielt man mit dem Gedanken, man könnte das später eigentlich häufig tun, man könnte jetzt Wege einschlagen, um so ein additionales Zimmer zu haben, eines ohne Dach, aber mit Stühlen, eines zum Lesen und Kräuter zupfen, eines für die Limonadengläser und Tische, die quietschen, eines, in dem man die kürzlich gefundenen, wirklich guten Kurzgeschichten noch ein zweites Mal liest und ein drittes Mal, eines zum Wetter sehen und anerkennen, eines zum Messen der Zeitverfluggeschwindigkeit. Oh man könnte, man könnte.

Die Unverletzlichkeit von Briefen

Zürich Hof

Nach den ersten Schritten sieht es beinahe so aus, als hätte der leichte Wind, der aber immer noch stärker ist als sonst, alle Menschen aus der Stadt geweht, als hätte er sie wie Blätter erst in den Rinnstein und später an den Rand der Kellertür getragen, wo sie sich übereinander zusammenfalten und liegen bleiben, denn verkeilt ist nun einmal verkeilt, das funktioniert auch mit minderer Textur. Als wir das Haus verlassen, fährt keines von den Kindern auf den Skateboards vorbei, die in diesen Tagen zu kurze Hosen tragen, um angemessen würdevoll mit dem Hintern auf dem Asphalt zu bremsen, alle sind auf einmal verschwunden, als hätte jemand die Stadt geschüttelt und jedes Teilchen hätte sich an einen anderen Ort gesetzt als wir.

„Hier singen die Bauarbeiter manchmal“, sagt K., als wir durch die Straße mit den schönen Häusern laufen, in Zürich muss man das betonen, da ist vieles schön dem Eindruck nach, aber diese Häuser sind nicht von gebügelter Schönheit, die Pflanzen haben sich über die Jahre um die Balkone geschlängelt, die Menschen, die dort leben, sind nicht gerade erst eingezogen, die wissen, wem sie vertrauen, wem nicht und wann sie Fenster beruhigt offen stehen lassen können, wo die Bobby-Cars gut aufgehoben sind. Die Straße wird neu gemacht, der Rest wird so gelassen, wir laufen durch ein Tor und dann steht da ein Turm neben uns, in dem Turbinen getestet werden. D. weiß es nicht genau, aber das mit dem Turbinen-Test-Turm klingt so schön und wir recherchieren nicht nach. Wirft man oben eine Möhre hinein, kommt unten ein Möhrensalat heraus. Vorne bei der Tram begegnen wir zum ersten Mal seit ein paar Minuten wieder einigen Menschen und je tiefer wir spazieren, umso mehr werden es. Vielleicht sind auch heute alle nur kraftlos den Berg hinab gerollt und am See ist die tiefste Stelle.

Dort sind alle, nicht nur ein paar, wirklich alle. Alle Künstler und Bankangestellten, alle Kinder, und Halbkinder und solche, die keine Kinder mehr sein wollen. Wir haben die andere Seite des Sees irgendwie verpasst, also lassen wir uns durch diese Menschen treiben, deren Stimmen sich auf mich setzen, als würden sie mich anfassen. Zu viele, zu nah, aber weiter. Und dann steht dieses Paar auf von der Bank, in dem Moment, als ich hinsehe, und wir setzen uns und wenn Geräusche einem nur noch im Rücken Theater machen, dann ist es einfacher sie wegzuschieben. Wir schauen auf die ruhige Seite und meine Beine werden immer länger und reichen irgendwann bis zum Springbrunnen drüben. Ein lang gezogener Ton bedeutet, wir bleiben auf Kurs.

Später, wir haben uns zu Starbucks verirrt und finden kaum heraus. „Das ist wie ein Disko“, sagt D. und sieht müde aus, wovon jetzt genau, weiß man nicht, weil Starbucks in der Einflugschneise zu liegen scheint, die Landebahn für den Rest, und auch hier muss man diesen Regeln folgen, die alle kennen, obwohl sie nirgendwo aufgeschrieben stehen. Dort holst du dir deinen Becher, dann malt jemand Kürzel darauf, dann bezahlst du, dort hinten wird gewartet und erst dann erhältst du dein Getränk, vorher wird noch einmal laut durch den Raum gebrüllt, weil alle es tun und wenn man es dann wieder raus geschafft hat ohne umzufallen oder einfach die Schnauze voll zu haben, dann steht man am Limmatquai, und drüben in der Frauen-Badi schwimmen schon die ersten. In der Bahn nach Hause liest die alte Dame mit der roten Bluse einen handgeschriebenen Brief, er wurde zweimal gefaltet, sie packt ihn auf den Knien aus, die Schrift ist ordentlich, als habe jemand vorher mit dem Lineal unsichtbare Linien gezogen, sie liest ihn einmal und noch einmal und dann steigen wir aus, wir haben dieselbe Haarlänge (und ich wünsche mir, ich werde später, wenn ich so aussehe, noch Briefe auseinander falten und lesen und wieder zusammen falten und in ihr Kuvert zurücklegen, ich wünsche mir, dann einen Ort für sie zu haben, eine Schatulle, und diese nicht umsonst zu besitzen, sondern sie immer mal wieder öffnen zu können).

Libelle

Zürich

Es gibt Menschen, die schalten an anderen Orten sofort Musik an, ich kenne nicht viele von ihnen, aber ich kenne ein paar. Sie setzen sich, sobald sie gelandet sind, Kopfhörer auf und folgen nur noch Buchstaben, die ihnen den Weg zeigen. Ich glaube häufig, mir würde das schwerfallen. Als würde ich die Fremde negieren, indem ich Vertrautes auflege, etwas drüber decke. Allein das Aufsetzen der Kopfhörer würde mir simulieren, ich hätte eine Ahnung, alles sei wie immer oder es bliebe zumindest ein Rest davon, als wüsste ich, wo ich bin oder wäre hier schon einmal gewesen. Und selbst wenn das stimmt, scheint mein Körper einige Minuten zu brauchen, um sich einzustellen auf den neuen Pegel, als hieße es, mich neu zu kalibrieren, neue Stimmfarben, andere Luft, verschobenes Grundrauschen. Ich brauche das sogar, wenn ich nur in Potsdam aussteige, manchmal genügt sogar ein anderer Bezirk. Als gehöre das zur Rüstung, die sich zurechtschiebt, sobald ich einen neuen U-Bahnhof verlasse. In Zügen, Bahnen, Bussen ist das anders, aber sobald der Raum weit ist und ohne Türen, sobald ich selbst gehen muss, sperrt mein Körper alle Poren auf, lässt das Neue hinein und richtet sich dann aus. Dieser Vorgang kann ein paar Minuten dauern, bitte brechen Sie ihn nicht ab.

Segeln gehen

Kaffee

„Gibst du mir mal die Milch?“, fragt K. und ich reiche ihr den kleinen Krug. „Ich mag es, wenn die Milch im Kaffee flockt“, sagt sie einige Zeit später, als ich gerade das Ei auf dem Brot in viele kleine Stücke zerteile, wobei es nicht auf dem Brot bleibt, obwohl genau das der Plan gewesen war. „Die meisten Leute können das nicht aushalten“, sagt K. und ich denke wieder, ich hätte nicht genau zugehört, einen Satz davor verpasst, vielleicht zwei, also sage ich gar nichts und schaue sie an, sie sieht über die Veranda hinaus bis hinter den Zaun, wo das andere Gras beginnt, das breitere, das mit dem Wind geht und nicht nur verloren darin herumsteht. Sie rührt in ihrem Kaffee und schaut in die Tasse und ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl, vielleicht kommt ein Sturm, vielleicht kommt wirklich einer, aber die Wetterstation sagt nichts und vielleicht brauchen wir mehr davon für Wetter und Witterung und die Dinge dazwischen. „Zumindest schauen die Leute meistens angewidert weg“, sagt K. und schaut von der Tasse auf, die sie in beide Hände nimmt jetzt. „Ausflockung habe ich immer als neues Universum gesehen, schon als Kind. Ich saß davor und habe beobachtet, wie sich die Stückchen erst verteilen, dann schwimmen und sich dann irgendwann doch mit dem Kaffee verbinden, als bräuchten sie für alles ein bisschen länger. Mein Großvater ermahnte mich stets.“ ““ „Warum“, frage ich. Am Horizont tauchen die ersten dunkleren Schlieren auf. „Vielleicht hatte er Angst, ich würde sein Getränk mit bloßen Blicken verschütten, dabei habe ich nur zugesehen und biss vor Spannung beinahe in die Tischkante. Ich konnte es ja auch nicht erklären, also was ich sah und was ich damit wollte, was ich zu entdecken versuchte, ich versuchte es eben und die Erwachsenen rührten meistens viel zu schnell um.“