Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Wahre Liebe, voll optimiert.

Tinder

Mit Kati Krause habe ich einen Text über die Erwartung an Dating-Apps, die Suche nach der großen Liebe und Missverständnisse in der Kommunikation für WIRED Germany geschrieben. Das Heft gibt es noch bis zum 27. April am Kiosk. Online gibt es den Text hier.

What you see is what you see.

Hearts

Morgens stand ich vor dem Spiegel, vorher kein besonderer Tag, und ich könnte nun nachschauen im Buch, weil ich ihn danach im Kalender markierte, aber das war ein Morgen wie immer, danach auch noch und trotz Markierung, und dann sah ich das weiße Haar. Ich bin jetzt 30 und dies ist mein erstes. Es war relativ kurz und richtete sich manchmal auf und um es mir genauer anzusehen, rupfte ich es aus. Vielleicht auch einfach aus Reflex, weil man das so beigebracht bekommt, jedenfalls bereute ich es ein paar Sekunden später schon wieder, als es auf meiner Handfläche lag und ich nicht wusste, wohin damit. Schmeißt man weg, so ein graues Haar, aber auch das erste? Die Babyhaare heben wir auf. Ich jedoch eigentlich nicht, weil sich in mir irgendetwas gegen das Sammeln und Verpacken in Boxen von Körperextensionen wehrt. Schon die Aufbewahrung der Milchzähne war nur so mittel meins, was ich merkte, als mir einer davon mal in der Hand zerfiel und damit auch jegliche Vorstellung seiner Beschaffenheit. (Für Konsistenz hat man immer wenig Gefühl, bis man sie am eigenen Leib spürt, die Vorstellung von Konsistenz ist meistens so vage, dass es möglich ist, sie an den Rand des Schlimmstmöglichen zu treiben.) Am Ende lag der Zahn zerfallen auf meiner Lebenslinie, viele Jahre später spürte ich noch einmal einen Milchzahn direkt in meinem Mund brechen. Auch so ein Konsistenzmoment, den man nicht mehr vergisst. Aber das hier war nur ein Haar, ein schneeweißes, ein paar Zentimeter langes Haar. Ich warf es weg. Notgedrungen. Fingernägel hebe ich auch nicht auf. Aber dieses Haar hätte ich dann doch lieber einfach dort gelassen, wo es gewachsen war. Auf der rechten Scheitelseite, vordere Mitte.

Ich dachte auf dem Weg in die Arbeit darüber nach, über meinen Reflex, das Haar auszureißen, das Gefühl, von dem ich immer eine Vorstellung hatte, über körperliche Veränderung und was man eigentlich erwartet. Ich bin aufgewachsen mit dem Grundgefühl einer Angst vor dem Älterwerden, ich begegnete in Gesprächen und in Magazinen Cellulite und Anti-Falten-Cremes lange bevor ich mich als Zielgruppe dafür eingestuft hätte. Und welche Chance haben wir denn? Über körperliche Veränderung zu reden, wie sie nicht passiert? Ich spüre jetzt, wie groß dieses mediengewordene Unbehagen war, bevor ich es am eigenen Leib erfuhr, wie man reingeredet wird in diese Komplexe, in das Hinterfragen des eigenen Fleisches und ob es die richtige Form und Temperatur hat, wie man nicht bestärkt, sondern vor allem verängstigt wird von Medien, Umfeld und Gesellschaft. Doch nun (ist mir neulich aufgefallen) und mittlerweile vor allem scheine ich von mir als Person ein anderes Bild zu haben als alle Spiegel dieser Welt. Dazu muss man sagen: ich besitze keinen Ganzkörperspiegel. Das war zum einen eine architektonische, zum anderen eine Körpergefühlsentscheidung. Ich wollte mich nicht mehr jeden Tag im Spiegel sehen. Nicht, weil ich den Anblick so schrecklich fand, sondern weil ich mich lieber wieder mehr spüren wollte. Was fühlt sich für mich gut an? Was möchte ich tragen? Und wie egal ist es eigentlich, wie das im Spiegel aussieht? Was daraus geworden ist: der Wunsch, keinen Ganzkörperspiegel mehr zu besitzen, also nie wieder. Und manchmal sehe ich mich in Schaufenstern und erkenne mich nicht. Da steht eine Frau, die, so glaube ich, so alt aussieht, wie sie ist. Eine Frau, die Falten um die Augen hat und Cellulite am Hintern (so sagen die selten besuchten Spiegel in Umkleidekabinen von Klamottenläden, nicht weil ich mich nicht sehen will, sondern weil ich mich von diesem Bild nicht mehr so abhängig machen möchte), eine Frau, die mittlerweile zwei Größen größer kauft als noch vor drei Jahren. Eine Frau, die nicht ganz so aussieht, wie die Frau in meinem Kopf. Sie sieht älter aus. Sie hat mehr Falten. Anscheinend hat sie auch demnächst ein paar graue Haare. Aber sie grinst.

(Und deswegen werde ich immer fragen „Wieso nicht?“, wenn jemand beschämt wegsieht und murmelt. dass er oder sie nicht über sein erstes graues Haar reden möchte. Ich werde es respektieren, aber vielleicht werde ich einfach von meinem erzählen und dann ist es nicht mehr ganz so schlimm. Vielleicht ist es sogar irgendwann einfach normal.)