afmæli

Warnemünde

Es gibt jetzt Seminare, in denen man lernen soll, auf sein Leben zurückzublicken. In denen man seine eigene Trauerrede schreiben soll, um lernen wertzuschätzen, was man hat und die eigenen Prioritäten zu überprüfen, Führungskräfte bekommen diese Seminare bezahlt, Kurse, Workshops, Coachings, da soll man dann rausgehen mit einem inneren Post-it. Vielleicht würde ich besser werden in diesen Tagen vor deinem Geburtstag, wenn ich so ein Seminar einmal besuchen würde, vielleicht könnte ich dann deinen Geburtstag, den du nicht mehr erlebst, würdevoller verbringen, vielleicht würde ich dann diesen Text auch tippen, ohne mir zu überlegen, ob da draußen jemand sitzt und verächtlich schaut beim Lesen dieses Textes und denkt „Oh Gott, jetzt schreibt sie das auch noch ins Internet, soll sie doch in ein Coping Coaching gehen“ und dann zum nächsten Blog schlurft, um wieder verächtlich zu schauen und trotzdem weiter zu lesen (ich brauche übrigens kein Coping Coaching, ist lieb, aber grundsätzlich ist hier alles in Ordnung, wirklich, trotz Blog und Trauertag, kaum zu glauben, hm?), vielleicht könnte ich dann irgendwie gerader einen Text über den Abschied schreiben, so wie ich es jedes Jahr mache, aber eben nicht wirklich gerade, weil ich glaube, dass das schon Sinn macht, sich nicht einzugraben mit Trauer und Abschied und dem, was man eigentlich so fühlt, wenn wieder der Tag im Kalender kommt, an dem jemand geboren wurde, der nicht mehr lebt, ich könnte vielleicht einen besseren Text schreiben, einen euphorischeren Text, aber wo ist denn die Euphorie an dem Tag, ich weiß, ich stelle mir diese Frage jedes Jahr kurz vorher („Wo ist die Euphorie?“), es ist kaum ein Jahr vergangen, in dem ich das mal vergessen habe, wo ist denn nur diese scheiß Euphorie, die die Menschen in den Filmen immer milde lächeln lässt und Kerzen anzünden und dann ohne zu zittern oder noch einmal von vorne anfangen zu müssen weise Worte sagen, (wo ist sie denn bitte?), und ich meine gar nicht das laute Juchzen und Schreien, das man so im Kopf hat, wenn man an Euphorie denkt, ich meine die leise, kleine Euphorie vom Berggipfel, genau die suche ich jedes Jahr in den Tagen davor wie ein Staubsauger, der auf das rumpelige Geräusch im Rohr wartet, aber es rumpelt nichts, es bleibt einfach ganz still. Und dann frage ich mich auch in den Tagen vor deinem Geburtstag, wo der Abstand ist, mein schöner, sorgfältig gekachelter Abstand, meine Distanz aus mittlerweile 30 Jahren hier herumstehen, wo ist der ganze Krempel denn, wenn man ihn braucht, jedes Jahr wieder ist in den Tagen vor deinem Geburtstag alles leer gefegt, nichts steht herum, nicht einmal ich, es gibt keinen Boden und keine Türklinken und ich glaube, dieses Jahr habe ich zum ersten Mal begriffen, dass es so ist, wenn sich alles zusammenreißt, also wortwörtlich. Sich in sich zusammen faltet, um Platz zu machen, denn die Frage nach der Euphorie ist ja eigentlich nur eine nach einem Geländer, an dem man sich festhalten will, die Frage nach dem Abstand ist ja eigentlich nur der Wunsch nach sicherer Entfernung, aus der heraus man einen Überblick bekommt, und was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass der Platz ja was gutes ist. Es ist gut, dass es kein Ersatzgefühl gibt für dich. Dass ich spüre, dass es nichts alltägliches ist, dass ich jetzt älter bin, als du jemals werden durftest. Dass ich mich frage, wie du gewesen und geworden wärst. Es ist gut, dass alle Kommoden und Einrichtungsgegenstände, die man sich so antrainiert, noch flexibel sind und wegrutschen, damit ich Platz habe und damit du Platz hast, weil das eben Platz braucht, meine Güte. Es gehört dazu, jedes Jahr, so ein Text, so ein Text für dich und für mich und für die, die da sitzen und genau wissen, wovon ich schreibe, also nicht für die mit den verächtlichen Stirnfalten (die dürfen eh gerne gehen, da vorne ist die Tür, ja, gleich an dem Platz da vorbei, bitte zumachen, vielen Dank), sondern die, die hier lesen und wissen und nicken und dann den Browser schließen und ihr Bett zurechtrücken, weil sich das auch bei ihnen mindestens einmal im Jahr ein Stückchen zur Seite schiebt ganz von allein. Es ist nun einmal ein trauriger Umstand mit so vielen Fragen, die man in den Wald hineinbrüllen könnte, wenn es auch nur irgendeinen Sinn machen würde, und mittlerweile weiß ich aber, dass an deinem Geburtstag meistens etwas Gutes passiert, das hat sich so eingebürgert, zumindest der Blick auf die Dinge an dem Tag, dass ich auch erkenne, was gut ist, also immer noch und ohne dich hier vor Ort und vielleicht ist es auch das, was sie in den Filmen eigentlich immer zeigen wollen, aber nicht hinkriegen, weil man rennt ja trotzdem nicht den ganzen Tag grinsend durch die Welt, das ist ja Käse, aber der Platz, den die Tage vorher um einen herum geschaffen haben, der kriecht dann durch das Mittelohr nach innen, tief hinein und wenn man irgendwann weiß, was das ist, das Gefühl davon, wenn man sich drauf vorbereitet, dann kann man sich zwischendurch auch freuen dann, nicht euphorisch und so seltsam friedlebend beglückt (weil in dem Umstand, dass du nicht mehr da bist, einfach kein Glück steckt, das ist nun mal so, vermissen ist scheiße), aber wissend, dass du da warst. Das ist etwas Gutes.