Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Dezember, 2014

Die Landkarte ist nicht das Gebiet

Felder

Ich erinnerte mich dieser Tage an die Fahrt mit dem Zug, als es noch warm war. Ich fuhr in den Süden, um vorzulesen, glaube ich, weiß es aber nicht mehr so genau, jedenfalls setzten sich zwei voll bewaffnete Polizisten in Schutzkleidung in mein Abteil. Ich erinnere mich an meinen angehaltenen Atem und wie ich vermied, auf ihre Kleidung zu sehen, auf die Waffen an ihren Gürteln, auf die große Waffe im Arm des einen, an das Gefühl in der Brust, die Beklemmung, an mein Lauschen ihrer Gespräche, an den Reflex mich zu empören, dass sie nicht fragten, ob es okay sei, sich dazuzusetzen, schließlich ist es nicht für jederman normal, mit drei Waffen in einem Abteil zu sitzen, und am Ende sagte ich gar nichts und sprach in Gedanken mit mir selbst und mit ihnen und der Welt, versuchte zu ergründen, woher mein Gefühl kam und was davon mein Innerstes war, was davon anerzogen, was medial draufgelegt und was auch einfach Haltung, von der man glaubt, sie haben zu müssen. Der Zug raste mit hoher Geschwindigkeit an Feldern vorbei, aber ich kam nicht voran.

eftir þvi­ sem ég man

Leaves

Was einem ein Glück sein kann. Das Raketenbuch ganz aus Versehen und ohne Hast fünf Sekunden vor Ausstieg zu Ende lesen, und auch noch das rote Bändchen wieder zwischen den Einband und die letzte Seite legen können, das sonst immer beim Lesen hinter den Seiten herumbaumelt wie so ein Bungeeseil für Käfer, jedenfalls Zeit zu haben, es zu retten, das Bändchen, und einzupacken, beinahe noch ein beruhigtes Seufzen zu hören, auch Zeit zu haben, das Buch noch in die Tasche zu stecken, auch das ohne Beeilen und dann genau im richtigen Moment fertig zu sein mit dem Zuklappen und dem Wegstecken, um hinauszutreten und die Hände tief in den Taschen zu vergraben. Denn das beim ersten Aussteigen ist die erste Kältestufe, oben auf der Zwischenetage mit dem Kiosk und dem Bäcker, der, glaube ich, gar kein Bäcker sondern irgendein Essenverkaufsladen ist und wegen seines orangefarbenen Schildes von mir als Bäcker gemerkt wird, dort beginnt die zweite Kältestufe. Die dritte kündigt sich an mit jeder Treppenstufe, in die zweite kann man sich noch per Rolltreppe fahren lassen, kurz, aber hey, doch in die dritte muss man selbst laufen, auf dem zweiten Treppenabsatz dann legt sich die Luft auf einen ohne Wind, wenn man Glück hat und gerade kein Zug ein- oder ausfährt, dann spürt man nur die Kälte ohne das Harte der Bewegung an der Haut. Ich bin ja auch davon überzeugt, dass der Wind weh tut, wenn er kalt ist, weil irgendetwas in ihm spitze Kanten hat und gar nicht die Temperatur sondern etwas mit Konsistenz Schuld ist, wenn die Haut reißt oder schmerzt, etwas, das wir nicht sehen können, das aber trotzdem da ist und mit angerissenen Fingernägeln an den Hautschuppen und Härchen kratzt. Was einem ein Glück sein kann, auch oben noch, sind Momente ohne Eile, wenn die eine Bewegung so in die nächste gleitet, als hätte jemand es geschrieben, wenn man sich nicht bemühen muss, sich nicht strecken zum Beispiel sondern die eigene Armlänge genau passt, der Schritt so gemacht wurde, dass der Körper sicher gesetzt wird und voran kommt, wenn die angenehme Geschwindigkeit genau die ist, mit der man den Bus erreicht und zwar nicht knapp sondern genau so, als hätte man schon gewartet. In der dritten Kältestufe wird der mit dem Rücken zum U-Bahnhof gewandte Engel wieder weiß angeleuchtet, vermutlich herrscht auf dem Sockel, auf dem er steht, Kältestufe vier, das Licht macht daraus beinahe noch Kältestufe fünf. Sonst werden die Bäume um ihn herum immer lila angestrahlert, gestern waren sie plötzlich rot, ich habe mich im Gehen noch einmal umgedreht, um das zu prüfen, man vertut sich ja manchmal, aber die waren rot gestern und heute sind sie wieder lila und ich frage mich, ob sich da jemand am Hebel einen Scherz erlaubt hat oder ob da wieder irgendein künstlerisches Konzept dahinter steht, was ich nicht verstehe. Was einem ein Glück sein kann, ist, dass Grün wird, wenn man ankommt, beziehungsweise eigentlich schon kurz davor, damit sich die träge Masse bereits in Bewegung gesetzt hat und man nicht bremsen muss sondern einfach weitergehen kann, wie man auch vorher gegangen ist mit dem Blick auf das in Versalien geschriebene Wort auf dem Haus mit den vielen Fenstern. Gedenkbibliothek. Und obwohl an der Ampel immer brave Studenten mit durchsichtigen Tüten stehen, denke ich nie, nicht ein einziges Mal an das Bibliothek in dem Wort sondern immer nur an Gedenk. Jeden Tag, wenn ich zurückkomme, bleibe ich am Gedenk hängen, an der Erinnerung, an der Bettung eines guten Gedankens, so stelle ich mir Gedenken vor, wie ein weiches Kissen für etwas Gutes, nicht zu weich natürlich, da sind die Dinge eigen, aber jedes Mal hänge ich an diesem Wort bis zur nächsten großen Kreuzung, während ich die Menschen im Lesesaal sehe und trotzdem nicht auf Bücher komme, ich frage mich immer nur, ob sie einander wiedererkennen, ob ich einen von ihnen irgendwann wiedererkenne, weil ich ja beinahe jeden Tag vorbeilaufe, und dann schüttle ich den Kopf, nicht um zu verneinen sondern um die Kurve zu nehmen, denn eigentlich war ich ja beim Gedenken und jeden Tag spüre ich, dass ich noch nicht angekommen bin in meinem Umgang damit, in meiner Definition und wie es sich anfühlen sollte, das Wort. In Kältestufe fünf bis sechs vorne, dort wo die mittlerweile beleuchtete Kirche steht, nehme ich mir vor, am nächsten Tag ein Stück weiter zu sein.