Insular
Ich konnte gar nicht genau sagen, was es war, aber es fiel mir auf. Ich behielt es für mich und schob es anfangs auf meinen Status als Neuling, Tourist, Besucher, auf meine Nichtahnung. (Es ist ja oft schwer, sich zu entscheiden, ob das nun ein Bauchgefühl oder eine Unsicherheit ist, man sollte es dann einfach noch ein bisschen liegen lassen und sich nichts anmerken lassen, bis zu dem Punkt, an dem ein Unterschied zwischen beiden sichtbar wird.) Wir schoben uns durch die Straßen von ReykjavÃk, ich war zu dünn angezogen und merkte es nicht, die Dämmerung schlich hinter uns her und wenn man den Kopf hob, sah man die schmale Straße, ein bisschen Asphalt, blaues Wasser und rosa Berge. Als hätte man so ein Aufklappbuch vor sich, aus dem sich Geschichten aus Pappe erheben, wenn man es öffnet.
Ein zwei Tage später, wir saßen in der hinteren Ecke des „Hemmi og Valdi“ kam es zurück und setzte sich neben meinen Becher mit heißer Schokolade, während wir zugereisten Norwegern beim Brettspiel zusahen. Sie haben einen zweigeteilten Blick, die Isländer. Als sähe das eine Auge hierhin und das andere Auge dorthin, wobei hierhin und dorthin wörtlicher zu nehmen sind, als man glaubt. Sie sehen aus, als hätten sie sich abgefunden, sie tragen ihre Kinder umher, ziehen ihnen die Jacken aus und wieder an, sie bleiben auf der Straße stehen, weil sie jemanden treffen, den sie kennen, sie grüßen sich über Autos und Menschen hinweg, sie sitzen und trinken und grüßen wieder andere Menschen, und sie sehen sich um. Sie sehen sich immer wieder um, als könnten sie etwas oder jemanden verpassen, sie schauen oft weiter weg, was nicht heißt, dass sie einem nicht in die Augen sehen, wenn sie mit einem sprechen. Zwischendurch aber rutscht ihnen der Blick immer in die Runde, aus dem Fenster, auf den Horizont oder auf das, was keinen Namen hat.
Sitzt in dem einen Auge also das Heimatgefühl, die Verbundenheit zu einem Ort, den man seit Jahren kennt, der abgeschlossen ist von vielem anderen und umgeben von Bergen und Ozean, sitzt in dem anderen Auge vielleicht eine Sehnsucht, von der man nicht weiß, auf was genau sie sich bezieht. Wobei doch jeder weiß, dass man nicht unbedingt mit den Hufen scharren muss, um sich etwas anderes zu wünschen als das, was man hat. Und Flo sagt, sie hätten sich darauf eingestellt, auf das Verlassen werden von den Menschen, die sie hier besuchen kommen. Wenn sie selbst nicht weggehen (denn es macht ja einen Unterschied, ob man sich in ein Auto setzen und in eine größere Stadt fahren kann, in der man einiges erlebt, oder ob man dafür ein Flugzeug und viel Geld braucht), bekommen sie mit, wie andere ihr Zuhause als touristische Attraktion besuchen, als Durchlauferhitzer, Raststätte und Auszeit. Die Isländer wissen, dass diese Menschen nicht allzu lange bleiben, die Zeit der meisten ist begrenzt, weil man es doch irgendwie gelernt haben muss, dieses Leben auf einer Insel, wo es nicht mehr als 300.000 Menschen gibt, von denen die Hälfte in der Hauptstadt lebt, die das flächendeckendste ist, was die Insel an Zivilisation und menschlichem Abgleich zu bieten hat und in der man dennoch alles bequem per Fuß erreicht. Sie wissen mit Abschieden umzugehen und hängen ihr Herz meistens nicht an Dinge, deren ausladende Bewegung sie kennen.
Manchmal habe ich geglaubt, ihnen das anzusehen. Wenn sie einen mustern und ein paar Fragen stellen, wenn sie sich dann wieder ihren eigenen Menschen zuwenden. Sie sind sehr freundlich dabei und lustig. Aber man sagt, sie würden einen vergessen manchmal. Was nicht mehr im Blickfeld schwirrt, existiert beinahe nicht mehr, sie konzentrieren sich auf das, was bleibt. Wie Schiffe, die den Hafen verlassen und an deren Glanz man sich erst wieder erinnert, wenn sie zurückkommen. Weil man ja auch nicht den ganzen Tag am Ufer stehen kann und warten. Und vielleicht kann man es ja auch nur so machen, vielleicht geht es nur so.