Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: November, 2011

Was ich liebte

Ornamentik

„Er war einer jener Menschen, die bei den Ereignissen in ihrem Leben nie ganz präsent sind. Ein Teil von ihm war nicht da, und dieses Abwesende an seinem Vater sollte nie aufhören, Bill zu verfolgen – sogar noch nach dessen Tod.“ (S.43)

„Ich nehme an, wir sind alle das Produkt der Freuden und Leiden unserer Eltern. Ihre Gefühle sind im gleichen Maße in uns eingeschrieben wie ihre Gene.“ (S.45)

„Ich fand immer, Liebe gedeiht gut bei einer gewissen Distanz; sie verlangt ein ehrfürchtiges Getrenntsein, um zu bestehen. Ohne diesen nötigen Abstand werden die kleinsten körperlichen Äußerungen des anderen in der Vergrößerung abscheulich.“ (S.59)

„Ich bin davon überzeugt, dass die Vermischung ein Schlüsselbegriff ist. Er funktioniert besser als Suggestion, die einseitig ist. Er erklärt das, worüber Menschen selten sprechen, weil wir uns als isoliert definieren, als geschlossene Körper, die aufeinander prallen, aber geschlossen bleiben. Descartes hatte Unrecht. Es muss nicht heißen: Ich denke, also bin ich. Es muss heißen: Ich bin, weil du bist. Das ist Hegel, na ja, die Kurzfassung.“ (S.121)

„Lügen haben immer zwei Seiten: Was man sagt, existiert mit dem zusammen, was man nicht gesagt hat, aber hätte sagen können. Wenn man zu lügen aufhört, schließt sich die Kluft zwischen den eigenen Worten und dem, was man innerlich glaubt, und man versucht, seine gesprochenen Worte in Zukunft mit der Sprache der eigenen Gedanken in Einklang zu bringen, zumindest jener, die geeignet sind, von anderen gehört zu werden.“ (S.283)

„Immer wenn ein Künstler stirbt, tritt das Werk langsam an die Stelle seines Körpers und wird ein leibhaftiger Ersatz für ihn in der Welt. Ich glaube, man kommt nicht dagegen an. Gebrauchsgegenständen wie Stühlen oder Tellern, von einer Generation an die nächste weitergegeben, mag kurzfristig etwas ihrer ehemaligen Besitzer anhaften, doch diese Eigenschaft verliert sich relativ schnell bei ihrem praktischen Gebrauch. Die Kunst, nutzlos, wie sie ist, widersteht der Einverleibung in den Alltag, und sofern sie irgendeine Kraft besitzt, scheint sie das Leben des Menschen, der sie geschaffen hat, zu atmen.“ (S.332)

(Siri Hustvedt – Was ich liebte)

Insular

Island

Ich konnte gar nicht genau sagen, was es war, aber es fiel mir auf. Ich behielt es für mich und schob es anfangs auf meinen Status als Neuling, Tourist, Besucher, auf meine Nichtahnung. (Es ist ja oft schwer, sich zu entscheiden, ob das nun ein Bauchgefühl oder eine Unsicherheit ist, man sollte es dann einfach noch ein bisschen liegen lassen und sich nichts anmerken lassen, bis zu dem Punkt, an dem ein Unterschied zwischen beiden sichtbar wird.) Wir schoben uns durch die Straßen von Reykjavík, ich war zu dünn angezogen und merkte es nicht, die Dämmerung schlich hinter uns her und wenn man den Kopf hob, sah man die schmale Straße, ein bisschen Asphalt, blaues Wasser und rosa Berge. Als hätte man so ein Aufklappbuch vor sich, aus dem sich Geschichten aus Pappe erheben, wenn man es öffnet.

Island 2

Ein zwei Tage später, wir saßen in der hinteren Ecke des „Hemmi og Valdi“ kam es zurück und setzte sich neben meinen Becher mit heißer Schokolade, während wir zugereisten Norwegern beim Brettspiel zusahen. Sie haben einen zweigeteilten Blick, die Isländer. Als sähe das eine Auge hierhin und das andere Auge dorthin, wobei hierhin und dorthin wörtlicher zu nehmen sind, als man glaubt. Sie sehen aus, als hätten sie sich abgefunden, sie tragen ihre Kinder umher, ziehen ihnen die Jacken aus und wieder an, sie bleiben auf der Straße stehen, weil sie jemanden treffen, den sie kennen, sie grüßen sich über Autos und Menschen hinweg, sie sitzen und trinken und grüßen wieder andere Menschen, und sie sehen sich um. Sie sehen sich immer wieder um, als könnten sie etwas oder jemanden verpassen, sie schauen oft weiter weg, was nicht heißt, dass sie einem nicht in die Augen sehen, wenn sie mit einem sprechen. Zwischendurch aber rutscht ihnen der Blick immer in die Runde, aus dem Fenster, auf den Horizont oder auf das, was keinen Namen hat.

Island Shore

Sitzt in dem einen Auge also das Heimatgefühl, die Verbundenheit zu einem Ort, den man seit Jahren kennt, der abgeschlossen ist von vielem anderen und umgeben von Bergen und Ozean, sitzt in dem anderen Auge vielleicht eine Sehnsucht, von der man nicht weiß, auf was genau sie sich bezieht. Wobei doch jeder weiß, dass man nicht unbedingt mit den Hufen scharren muss, um sich etwas anderes zu wünschen als das, was man hat. Und Flo sagt, sie hätten sich darauf eingestellt, auf das Verlassen werden von den Menschen, die sie hier besuchen kommen. Wenn sie selbst nicht weggehen (denn es macht ja einen Unterschied, ob man sich in ein Auto setzen und in eine größere Stadt fahren kann, in der man einiges erlebt, oder ob man dafür ein Flugzeug und viel Geld braucht), bekommen sie mit, wie andere ihr Zuhause als touristische Attraktion besuchen, als Durchlauferhitzer, Raststätte und Auszeit. Die Isländer wissen, dass diese Menschen nicht allzu lange bleiben, die Zeit der meisten ist begrenzt, weil man es doch irgendwie gelernt haben muss, dieses Leben auf einer Insel, wo es nicht mehr als 300.000 Menschen gibt, von denen die Hälfte in der Hauptstadt lebt, die das flächendeckendste ist, was die Insel an Zivilisation und menschlichem Abgleich zu bieten hat und in der man dennoch alles bequem per Fuß erreicht. Sie wissen mit Abschieden umzugehen und hängen ihr Herz meistens nicht an Dinge, deren ausladende Bewegung sie kennen.

Island Valley

Manchmal habe ich geglaubt, ihnen das anzusehen. Wenn sie einen mustern und ein paar Fragen stellen, wenn sie sich dann wieder ihren eigenen Menschen zuwenden. Sie sind sehr freundlich dabei und lustig. Aber man sagt, sie würden einen vergessen manchmal. Was nicht mehr im Blickfeld schwirrt, existiert beinahe nicht mehr, sie konzentrieren sich auf das, was bleibt. Wie Schiffe, die den Hafen verlassen und an deren Glanz man sich erst wieder erinnert, wenn sie zurückkommen. Weil man ja auch nicht den ganzen Tag am Ufer stehen kann und warten. Und vielleicht kann man es ja auch nur so machen, vielleicht geht es nur so.

The Future

Movie Poster

Ich habe neulich Miranda Julys neuen Film „The Future“ in den Tilsiter Lichtspielen gesehen. Und als wir herauskamen, hatte ich zuerst diese kurze Yay-Gefühl, eine kleine Euphorie gepaart mit der seltsamen Wahrnehmung, die man hat, wenn man aus dem Theater oder einer Inszenierung kommt, einem Film, der mehr war als Unterhaltung, und nach dem man das Gefühl hat, jede Bewegung, jedes Wort, jeder Blick würden aufgezeichnet, spielten eine Rolle und hätten eine Bedeutung, die über ihren Selbstzweck hinausgeht. (Kennt man das? Darf ich hier „man“ benutzen oder geht das nur mir so?“) Ich jedenfalls – ich bewege mich vorsichtiger nach solchen zwei Stunden, meist bin ich recht still, laufe langsamer, schaue und kurz ist es, als wäre alles um einen Zentimeter verschoben. Aber das Gefühl tritt sich meist schon hinter der nächsten Häuserecke fest. Jedenfalls: Auch nach „The Future“ ging es mir kurz so, als wir auf die gelb beblätterte Straße hinaustraten zwischen die Laternen. Und als wir während der zweiten Runde um den Block leise über den Film sprachen, wurde das Yay-Gefühl zu einer kleinen Enttäuschung. As some would say, I think she played it save. Und um der ganzen Abfeierei etwas entgegen zu setzen, habe ich versucht, die Gründe für das leichte Missfallen in meinem Kopf zu ordnen. Alles subjektiv, alles ohne Hintergrundlektüre, alles Momentaufnahme.

/ Wie mochte ich den Anfang, die Inszenierung der Paarbeziehung auf engem Raum, wie sehr gefiel mir das abgeklebt bunte Fenster, das das Licht über dem Bett von Sophie und Jason abfängt, man schaut nicht nach draußen von dort, man bleibt im Raum und konzentriert sich auf alles, was sich dort abspielt. Und ja, ich mochte es, wie die beiden Mitdreißiger sich eine Aufgabe suchten, die Adoption einer Katze als Schritt in ihrer gemeinsamen Beziehung deklarierten, für den sie nun bereit seien. Wobei der Betrachter durchaus schmunzeln mag, weil man eigentlich wissen kann, dass das weniger ein Schritt ist, der so geplant im Kochbuch steht, als mehr der Ausweg aus der Einöde, der muntere Versuch einer Abwechslung, die man eben als bewusste Entscheidung deklariert, weil man sich die Langeweile selten eingesteht.

The Couple

/ Womit wir bei der Katze sind, die sie aus einem Tierheim holen möchten, von einer Krankenstation, auf der Tiere wohnen, die nicht mehr so lange zu leben haben. Sie suchen sich also eine Abwechslung, von der sie wissen, sie ist zeitlich begrenzt. Verantwortungsmanagement im Sinne von: „Das legt uns nicht fest, zumindest nicht dauerhaft, nur auf 5-6 Monate verbleibende Lebenserwartung eines Tieres.“ Die Katze spricht und auch hier muss ich lachen, weil ich sofort Mirandas Stimme erkenne, sie scheint einen Hang dazu zu haben, spielte sie doch in „Me and you and everyone we know“ ebenfalls verteilte Rollen mit sich selbst, nur dass man ihr damals direkt dabei zusehen konnte. Der ungeübte July-Zuschauer mag sie nicht sofort erkennen, ich selbst erkannte in der Vermenschlichung der Katze sofort ein July-Element. Und wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es davon viele geben würde. Und sie mich langweilten. Ist die Katze also am Anfang Mittel zum Zweck einer Auflockerung, wird sie im Laufe des Films zur knallharten Metapher, ganz ohne Augenzwinkern. Und wo man am Anfang noch dachte „Och lustig“, fährt es einem später kalt über den Rücken, weil die Plattitüde auf die Ästhetik drückt und zwar so, dass man es beinahe nicht aushält. Natürlich wartet die Katze vergeblich auf die beiden, natürlich stirbt sie und Seele trennt sich von Körper, natürlich fährt sie hinaus in gleißend helles, warmes Licht und eine Ewigkeit, in der sich jedes Warten, jede Sehnsucht und jeder Ich-Bezug auflöst und man einfach nur noch ist. Aua. (In der aktuellen Ausgabe der „Du“ wird übrigens Miranda Julys Suche nach sich selbst thematisiert, betrachtet man den Film unter diesen Aspekten findet das Eine zum Anderen und macht die Katze zum Fokus der (haha) Katharsis. Aua.)

/ Um bei diesen Gott-Afterlife-Metaphern zu bleiben, kommt mir direkt das Bild von Jason in den Sinn, der sich in seiner Wut auf die aus dem Alltag ausbrechende Sophie in einen Zeitstillstand flüchtet, über den er dann die Kontrolle verliert. Wie er aber am Meer steht und es plötzlich doch schafft, die Zeit weiterlaufen zu lassen und sich nicht in der Unendlichkeit verheddert, wie er die Arme hebt, sich die Wellen fügen und auf ihn zurollen, wie er macht, dass die Gezeiten wieder funktionieren, in seiner Abhängigkeit und seinem Zwiegespräch mit dem Mond, erinnert er mich an den kleinen Hävelmann. Und das auf eine ungute Art und Weise, obwohl ich das Bild von Gezeiten eigentlich mag.

Sophie

/ Und so kommen wir noch einmal kurz zurück zu einer mir doch sehr angenehmen Szene, weil sie die Nähe zwischen Jason und Sophie, die sie sich über Jahre aufgebaut haben, direkt am Anfang des Films wunderbar zeigt. Sie haben ein Spiel, die beiden, wenn Jason ein Signal gibt, hält er die Zeit an und Sophie fügt sich, das heißt, sie bewegt sich nicht und beide verharren in einer Stille und der jeweiligen Position. In ihrem Alltag funktioniert diese Geste als liebevolle Eingespieltheit, im späteren Verlauf des Konflikts wirkt sie wie der erste Einfall, den man haben kann, wenn man überlegt: „Okay, was könnte Jason tun, um Sophie nicht gehen zu lassen? Na gut, hält er halt wieder die Zeit an.“ Sie fügt sich diesem Spiel ohne einen Mucks und er weiß weder vor noch zurück. Als Bild: Schwierig, weil platt.

/ Ebenso flach waren meiner Meinung nach die Kamerafahrten, die hier und da und vor allem in Momenten der Unsicherheit dem Blick von Sophie folgten und recht offensichtlich ihre Entscheidungsschwäche ausdrückten. Blick auf die Vase, Blick auf den Teppich, Blick zurück auf die Vase, Blick auf die eigenen Füße, zitterzitter, wohin wohin. War man ihr doch in ihrem Tanz (denn ja, Sophie ist Tanzlehrerin für Kinder und versucht sich selbst an einem YouTube-Marathon, bei dem sie an 30 Tagen 30 Tänze aufnehmen will – und scheitert) viel näher. So gibt es eine Szene, in der sie in einem Zimmer im Haus ihres Geliebten an einem Abend, als die Sehnsucht sie überkommt, anfängt zu tanzen, sich an den Wänden zu reiben – und man bekommt das Gefühl, sie versuche, die Sehnsucht loszuwerden, die sie immer wieder an zuhause denken lässt, sie versucht, sich das Neue zu eigen zu machen. Was durch den entsetzten Blick ihres Geliebten, als er sie dabei ertappt, gestört und unterbrochen wird. Ebenso schön dazu im Vergleich der Alltag, den sie mit Jason hatte – und in dem es völlig normal war, dass sie in eine Alltagsbewegung eine Tanzgeste mit einbaute oder sich hier und da etwas anders fortbewegte.

/ Was ich an Julys Geschichten mag, ist die Rolle des Kindes und der Versuch, Kinder etwas vermeintlich erwachsenes tun zu lassen. Oft bleiben in Julys Geschichten die Kleinen relativ unbeeindruckt von Umständen, die den Großen zu schaffen machen, sie führen ihre Handlungen fort und begeben sich in Situationen, die jeder andere für absurd hielte, für die Kinder jedoch das Selbstverständlichste von der Welt scheint. Im ersten Moment fällt es dem Betrachter leicht, die Kinder für weise zu halten, sie übernehmen schnell die Rolle des unaufgeregten allwissenden Großvaters im Sessel in der Ecke. Auf den zweiten Blick jedoch offenbart sich diese Weisheit als simple kindliche Rationalität, die wir so gern als Weisheit begreifen, weil sie sich auf Wesentliches beschränkt. Am Ende bleiben Kinder immer Kinder und dem Erwachsenen fällt das erst auf, wenn sie zurückkommen auf der Suche nach Hilfe oder simpel gescheitert sind in ihrem Vorhaben. Dass man selbst erst denkt „Woah, Superkind, superschlau“ mag an der Sehnsucht nach angeborener Weisheit liegen, bei der wir oft übersehen, dass wir uns Weisheit durch Erfahrung erarbeiten müssen. Aber auch in „The Future“ kam mir das Kind zu kurz, es wurde in seiner Entwicklung nur angeschnitten, genauer gesagt die Tochter von Sophies Geliebten vergräbt sich eines Abends im Garten und möchte in der Erde schlafen, während der Vater sie in dem Glauben der Sicherheit einfach gewähren lässt. Nachts kommt das Kind weinend und angstvoll zurück und wird von Sophie in die Badewanne gesetzt, eine mütterliche Geste, obwohl die beiden sich eigentlich fremd sind. Was ich hätte wissen wollen: Was hat sie erlebt, und wie erklärt sie das am Morgen dem Vater? Bereut er, das nicht vorausgesehen zu haben?

Floor

/ Apropo Nähe-Distanz-Problem. Ein weiteres July-Element ist meiner Meinung nach ihre Konfrontation von Fremden mit sich selbst. Hauptfiguren haben bei July den Drang dazu, sich fremden Menschen ins Leben zu werfen und zu sagen „Hallo, hier bin ich. Und jetzt mach was damit. Reagiere bitte.“ Ob dahinter die Verarbeitung der Beziehung zwischen Schicksal und Zufall steckt, vermag ich nicht zu sagen, gleichzeitig merke ich jedoch, dass es mich jedes Mal für einen Moment verstört, weil damit alle persönlichen Schutzräume aufgehoben werden, also wenn jemand kommt und sich vor dich stellt und dann dort nicht weggeht, oder ob er anruft und dich Sachen fragt und wieder anruft und noch einmal Sachen fragt. July lotet hier jedes Mal ebenfalls die Gefühle des Fremden aus, der plötzlich jemanden vor der Nase hat und zwischen Misstrauen, Neugier, Faszination und Unbehagen hin und her gerissen ist.

Was ich sagen wollte: Ich bin enttäuscht ob der sich wiederholenden Motive ihrer Geschichten, ob der Plakativität ihrer Metaphern und der augenscheinlichen Aufgabe, die dieser Film hat als Teil eines Puzzles im Projekt der Inszenierung einer Suche nach sich selbst und dem Verlassen der eingefahrenen Bahnen. So sehr ich mich über die Erzählweise zu Beginn des Filmes freute, so enttäuscht war ich bei der Auflösung dieser Erzählstruktur in ein Bildergewitter, das überfrachtet war mit ausgelatschten Anspielungen und sich vermengenden Ebenen.

Ach Miranda.